„Intersexuell ist nicht dasselbe wie divers“

Mittelalter Mann mit Brille und weißem Bart

2017 fällte das Bundeverfassungsgericht ein Grundsatzurteil: Menschen müssen sich nicht mehr nur der männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität zuzuordnen. Der Jurist Professor Jens M. Scherpe beobachtet dieses Themenfeld schon seit Jahren. Unter anderem forscht er zur Frage, welche praktischen Folgen ein solch nicht-binäres, rechtliches Geschlechtersystem hat. Im Gespräch gibt er einen Einblick in aktuelle Entwicklungen.

Herr Professor Scherpe, seit Ende 2018 gibt es in Deutschland neben M und F auch die Kategorie X für divers – das sogenannte dritte Geschlecht. Meint divers eigentlich dasselbe wie intergeschlechtlich?

Nein. Das Wort divers wird von einem viel größeren Personenkreis für ganz unterschiedliche Geschlechtsidentitäten verwendet. Es wäre also falsch, hier schlicht von einem „dritten Geschlecht“ zu sprechen, gemeint ist vielmehr eine dritte Geschlechtskategorie. Ebenso ist Intersexualität auch kein „Geschlecht“. Intersexuelle wurden mit einem Körper geboren, der nicht den normativen Vorstellungen von männlich oder weiblich entspricht. Lange konnten Eltern, Ärztinnen und Ärzte schon im Kindesalter Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichende Operationen beschließen. Diese haben viel Leid gebracht. Seit Mai 2021 gilt nun das Gesetz für den Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Intersexuelle dürfen selbst über Behandlungen entscheiden, sobald sie alt genug sind, die Schwere der Entscheidung zu verstehen. Ausnahmen gelten nur für medizinisch zwingend erforderliche Behandlungen.

2018 haben Sie am DAAD-University of Cambridge Research Hub for German Studies unter anderem an einer Studie zu den praktischen Folgen eines nicht-binären rechtlichen Geschlechtersystems mitgewirkt. Was hat sich Ihrer Ansicht nach seither verändert?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass das Thema überhaupt auf der politischen Agenda ist und diskutiert wird. Bis vor Kurzem waren nicht-binäre Menschen sozial und juristisch ja nahezu unsichtbar. Jetzt gibt in Politik und Wissenschaft ein viel größeres Bewusstsein für dieses Thema und die Menschenrechtsdimension. Dass die Autonomie und physische Integrität der betroffenen Personen geschützt werden müssen, wird heute zumindest in Deutschland nicht mehr bezweifelt.

Hat sich auf staatlicher Ebene eine dritte rechtliche Geschlechtskategorie inzwischen auch weltweit etabliert?

Leider nein. Zwar ist es inzwischen in vielen Staaten möglich, dass Menschen sich zum Beispiel in ihren Ausweispapieren als divers eintragen lassen. Wenn sie aber rechtlich in anderen Dingen mit Behörden zu tun haben, müssen sie sich dennoch wieder als Frauen oder Männer definieren. Nicht so in Deutschland, das in Europa Vorreiter war, als es die Kategorie divers auf juristischer Ebene einführte. Inzwischen haben Österreich und Island nachgezogen. Das sind gute Schritte. Aber es gibt noch viel zu tun.

Inwiefern?

Es geht ja nicht nur um Einträge in der Geburtsurkunde und medizinische Behandlungen. Durch den medizinischen Fortschritt haben sich geschlechtsspezifische Funktionen und Rollen stark verändert. Man denke nur an die Leihmutterschaft. Der Rechtsstaat muss einer Alltagsrealität mit vielen verschiedenen Geschlechtsidentitäten gerecht werden. Dazu ein paar Beispiele: In Dänemark erhalten alle Menschen bei ihrer Geburt eine Personennummer. Menschen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen bekommen eine gerade Nummer und werden später automatisch zur Brustkrebsvorsorge gebeten. Menschen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen bekommen eine ungerade Nummer und später eine Einladung zur Prostatakrebsvorsorge. Das ist zum Beispiel für nicht-binäre Personen schwierig. Sie haben ja ein Geschlecht, aber es passt nicht in unsere bisherigen Muster. Seit 2017 haben wir in Deutschland die gleichgeschlechtliche Ehe für zwei Menschen gleichen Geschlechts. Und wie gehen wir damit um, wenn eine Frau eine diverse Person heiraten will? Warum sagt man nicht einfach: eine Ehe von zwei Personen!?

Aus juristischer Sicht: Wo haben wir in Deutschland noch Klärungsbedarf?

Bislang müssen Menschen, die ihren Geschlechtseintrag und ihren Vornamen ändern möchten, dazu zwei Gutachten von Sachverständigen einholen. Meiner Ansicht nach ist das nicht nötig, das zeigen Erfahrungen aus Ländern, in denen bereits ähnliche Gesetze gelten. Auch in Deutschland wurde jetzt ein Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz veröffentlicht: Betroffene brauchen demnach keine Gutachten mehr vorzulegen. Sie geben beim Standesamt eine „Erklärung mit Eigenversicherung“ ab, statt wie bisher das Amtsgericht zu bemühen. Das begrüße ich. Wir müssen auch über Begriffe wie Mutter und Vater nachdenken. Sie wecken soziale und physische Erwartungen an die Eltern, die irreführend sein können. In Deutschland und England gilt eine Person, die ein Kind geboren hat, automatisch als dessen Mutter. In Schweden und Island können die Behörden sie auch als dessen Vater registrieren, wenn das ihrem Empfinden entspricht. Wörter wie Mutter und Vater werden in immer mehr Ländern durch das geschlechtsneutrale Wort Eltern ersetzt, das auch im Singular verwendet wird: Elter. In der kanadischen Provinz Ontario und im US-Bundesstaat Kalifornien können Kinder schon jetzt mehr als zwei Eltern haben. Um juristisch als Elternteil anerkannt zu werden, muss man in Kalifornien nachweisen, dass man tatsächlich am Leben des Kindes teilhat, für es sorgt. Dass ein Kind nur zwei Eltern hat, widerspricht häufig der Alltagsrealität. Schließlich werden Kinder oft von mehr als zwei Personen betreut.

In Deutschland und vielen anderen Ländern haben wir das Modell der gemeinsamen elterlichen Verantwortung. Ohne dass beide Eltern zustimmen, passiert nichts. Entwickeln wir uns auch hier weiter?

Bisher nicht. In England zum Beispiel ist das anders, dort dürfen alle Personen, die elterliche Verantwortung innehaben, grundsätzlich allein handeln. Eine alleinerziehende Mutter kann ihr Kind zunächst ohne die Zustimmung anderer Erziehungsberechtigter auf Klassenfahrt schicken, wenn sie es für richtig hält. Sollten diese das nicht wünschen, müssen sie um eine entgegenstehende gerichtliche Entscheidung ersuchen – also genau entgegengesetzt zur Abfolge in Deutschland.
 
Arbeiten Juristinnen und Juristen länderübergreifend zu Themen der Geschlechtsidentität?

Ja. Eine internationale Gruppe von Juristinnen und Juristen entwickelte zum Beispiel 2006 und 2017 die Yogyakarta-Prinzipien, Menschenrechte für LGBT-Communities. Benannt wurden sie nach der indonesischen Stadt Yogyakarta, wo ein wichtiges Treffen stattfand. Aus der Rechtswissenschaft kommen viele Anstöße. Die wichtigsten Aktivitäten finden aber in den Communities statt. „Nicht über uns ohne uns“, lautet ihr Motto. Diese Aktivistinnen und Aktivisten wollen ihre Identität, ihre Bedürfnisse und Forderungen an die Politik selbst formulieren. Sie leisten eine fantastische Arbeit und nehmen dabei Nachteile in ihrem Berufs- und Privatleben in Kauf. Ich sehe meine Aufgabe darin, ihnen kontinuierlich zuzuhören.

Warum sorgen Debatten über Geschlechtsidentitäten eigentlich für so heftige Emotionen?

Hier möchte ich unterscheiden zwischen den Menschen, um deren Identität es geht, und der Gesellschaft an sich. Menschen bekommen gesagt, dass sie gar nicht existieren oder nicht so, wie andere sie haben wollen. Darauf reagieren sie gereizt. Das kann ich nur zu gut verstehen. Wie mit Themen rund um Sexualität und Geschlechtsidentität umgegangen wird, wirft ein Licht darauf, wie menschlich die Gesellschaft ist. Populisten nutzen diese Themen, um billig Stimmen zu fangen. In einigen Ländern wird damit die nationale Identität beschworen. Solche Diskussionen lenken von der Armut, der Wohnungsnot, der Umweltzerstörung und anderen Problemen bewusst ab. In Deutschland gibt es solche populistischen Stimmen ja auch. Zum Glück sind wir aufgrund unserer Vergangenheit an dieser Stelle besonders sensibel für Diskriminierungen. Dass das Bundesverfassungsgericht 2017 sein wichtiges Urteil gefällt hat, ist auch darauf zurückzuführen.

(Josefine Janert, 27. Juni 2023)

Verwandte Themen