Neue Impulse für chancengerechte und nachhaltige Bildung

Virtuelle Konferenz im Projekt „MyScore“ der RWTH Aachen

Digitale Lehrformate ermöglichen nicht nur den internationalen Austausch oder geben neue Impulse für die Lehre. Sie tragen auch zu mehr Nachhaltigkeit und Chancengleichheit an den Hochschulen bei. Wie das konkret aussehen kann, zeigen zwei vom DAAD geförderte Projekte. 

Akademischer Austausch hinterlässt einen relevanten CO2-Fußabdruck. Studierende reisen ins Ausland, Forschende besuchen Konferenzen, internationale Arbeitsgruppen treffen sich. Für diese Reisen gibt es viele gute Gründe:  sie erweitern den Horizont, schlagen Brücken zwischen Kulturen und intensivieren grenzübergreifendes, kollaboratives Arbeiten. Sie kosten aber auch (Reise-)Zeit, Geld und sind wenig nachhaltig. Heribert Nacken, Professor für Ingenieurhydrologie und Rektoratsbeauftragter für Blended Learning an der RTWH Aachen, hält diese Praxis für wenig zukunftsfähig und plädiert für ein Umdenken: „Wir alle müssen dringend unseren CO2-Fußabdruck reduzieren. Zum Glück gibt es gute Alternativen, gerade für Arbeitstreffen und Konferenzen.“ 

Die einfachste und seit der Coronapandemie am weitesten verbreitete Variante ist sicherlich die Videokonferenz. Sie ermöglicht nicht nur den fachlichen Austausch, sondern auch hybride Lehrveranstaltungen. Die Studierenden können selbst entscheiden, ob sie lieber im Hörsaal zuhören oder sich von zu Hause zuschalten. Das macht Lehren und Lernen flexibler, barrierefreier und auch nachhaltiger. Man denke nur an die klassische Ringvorlesung mit Gastvorträgen von Expertinnen und Experten aus aller Welt. Eine lange Anreise für einen 90-minütigen Vortrag ist nicht mehr nötig, das Wissen kann auch vom Homeoffice oder Universitätsbüro aus geteilt werden. Videokonferenzen sind aber nur eine Möglichkeit, ortsunabhängig und flexibel zu lehren.

Potenziale virtueller Lehre 

Forschende der RTWH Aachen entwickelten im Projekt „MyScore“ eine Avatar-basierte Software für Lehrveranstaltungen und Meetings. Das Projekt wurde im Rahmen des DAAD-Programms „Internationale Mobilität und Kooperation Digital“ (IMKD) gefördert. Und so funktioniert es: Die Teilnehmenden tragen eine VR-Brille und können sich in einer virtuellen Umgebung bewegen, interagieren und miteinander kommunizieren. Je nach Bedarf lässt sich die Darstellung verändern –vom Konferenzraum über den Besuch einer Ausgrabungsstätte bis hin zu konkreten Übungen für die Praxis ist vieles möglich. An der RTWH Aachen trainieren so zum Beispiel angehende Bauingenieurinnen und -ingenieure den Aufbau von Hochwasserschutzwänden oder diskutieren in virtuellen Town Hall Meetings mit Bürgerinnen und Bürgern über Sinn und Unsinn neuer Bauprojekte. 

Virtuelles Training für den Aufbau von Hochwasserschutzwänden

Auch englischsprachige Informationen zum Studium an der RTWH Aachen inklusive eines ersten Eindrucks vom Campus gibt es bereits in der virtuellen Realität. Studierende aus dem Ausland können sich so die weite Anreise zu Hochschulinformationstagen sparen. Wichtigste Voraussetzung für solche Angebote ist neben der Offenheit für neue Technologien eine VR-Brille. Einmal angeschafft, können die Geräte auch fachbereichsübergreifend genutzt werden. Studierende der theologischen Fakultät der RWTH Aachen setzen sie etwa ein, um virtuelle Exkursionen nach Israel oder andere, fachlich relevante Orte zu unternehmen. Damit auch andere Hochschulen von der Idee profitieren können, steht die Software samt Serverkapazitäten für eigene Projekte frei zur Verfügung. „Wir werben bei jeder Gelegenheit für unser Angebot, bei Partnern im Ausland und bei den eigenen Kollegen“, berichtet Professor Nacken. „Virtual Reality ist für die internationale Lehre keine Spielerei mehr, sondern eine gute Möglichkeit für mehr Nachhaltigkeit und neue didaktische Impulse.“

Leichterer Zugang zu abstraktem Wissen

Neben der Reduzierung von Treibhausgasen haben neue Formen digitaler Lehre noch einen weiteren positiven Effekt: Sie ermöglichen einen leichteren Zugang zu Wissen und tragen damit zu einer chancengerechteren Bildung bei. Das beweist zum Beispiel das Projekt „(In)Visible Women in Social Sciences and Social Work“. Studierende und Lehrende der Evangelischen Hochschule Dresden, der Seinäjoki University of Applied Sciences in Finnland und der Wirtschaftsuniversität Wien widmeten sich gemeinsam den Biografien von vier Pionierinnen der Sozialwissenschaften: Hilma Granqvist, Dorothy Swaine Thomas, Marie Jahoda und Beatrice Webb. Die Besonderheit liegt in der Form der Darstellung. Die Lebensleistungen der vier Forscherinnen wurden in Form von Educational Comics aufbereitet. „Wir haben uns gemeinsam über zwei Semester mit ihren Biografien und ihrem wissenschaftlichen Werk auseinandergesetzt. Besonders spannend waren dabei die unterschiedlichen Blickwinkel auf ihre Arbeit“, erzählt Projektleiterin Franziska Wächter.

Studierende in Wien bei der Präsentation ihrer Workshopergebnisse für das Projekt „(In)Visible Women in Social Sciences and Social Work“

Das besondere Format der Wissenschaftskommunikation war unter dem Aspekt der Chancengleichheit sehr bewusst gewählt. Schließlich bieten die Educational Comics einen niedrigschwelligen Zugang zu eher abstraktem Wissen aus den Sozialwissenschaften. In Dresden lag der Fokus stärker auf der Sozialforschung, in Finnland auf dem Sozialwesen und der Sozialen Arbeit und in Wien auf Gender und Diversity. Diese drei Perspektiven brachten die Studierenden und Forschenden in virtuellen Treffen zusammen. In Wien fand zudem ein gemeinsamer Workshop mit Comiczeichnern statt. „Unser Projekt basierte auf zwei Säulen der UN-Nachhaltigkeitsziele: hochwertige Bildung und Gleichstellung der Geschlechter.“ Hinzu kam, dass viele Studierende aus Finnland, die aufgrund beruflicher und familiärer Verpflichtungen nicht am gemeinsamen Präsenzworkshop in Wien teilnehmen konnten, über einen digitalen Zugriff dennoch die Möglichkeit hatten, am Projektgeschehen teilzunehmen. 

Positive Begleitevaluation

In welchem Umfang digitale Lehre dabei unterstützt, den CO2-Fußabdruck von Forschenden zu reduzieren, wie sich Konferenzen dadurch verändern und digitale internationale Austauschprogramme zu Chancengleichheit und Barrierefreiheit beitragen, ist zwar noch schwer zu beziffern. Dennoch kommt die entsprechende Begleitevaluation des DAAD zu positiven Ergebnissen. So zeichne sich bei den Studierenden nach der Pandemie ein Trend zu Kurzzeitmobilität ab. Dadurch werden zwar nicht automatisch CO2-Emissionen eingespart, jedoch Familien- und Heimatbesuche reduziert. Größeres Einsparpotenzial für reisebedingte CO2-Emissionen besteht bei Forschenden und Lehrenden, die Planungs- und Abstimmungsprozesse vermehrt digital durchführen können. 

Auch beim Thema Chancengerechtigkeit zeichne sich ein positiver Trend ab. Digitale Formate böten vielfältige Möglichkeiten, den Zugang zu internationalen Angeboten für eine diversere Studierendenschaft zu verbessern. 75 Prozent der Projektmitarbeitenden geben an, dass mit dem Einsatz digitaler Lehr- und Lernangebote eine diversere Studierendenschaft erreicht werden kann.  Gerade Studierende, für die ein längerer Auslandsaufenthalt durch eine Berufstätigkeit oder durch familiäre Verpflichtungen sonst nicht infrage kommt, profitierten von den digitalen und vor allem flexiblen Austauschangeboten. Gleiches gelte auch für Studierende mit einer Behinderung.

Birk Grüling (29. September 2023)

 

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