Japans Vision einer supersmarten Gesellschaft

Der von japanischen Wissenschaftlern entwickelte Roboter „Alter“ kann komplexe Bewegungen ausführen.

Fast zweihundert Jahre nach seinem Aufbruch in die Moderne will Japan erneut große Fortschritte machen. Ein Blick auf die Wissenschaftslandschaft.

Japan hat in seiner Geschichte mehrmals bewiesen, dass es zu nachhaltigen Veränderungen fähig ist, wenn große Herausforderungen es erfordern. Mitte des 19. Jahrhunderts transformierte Japans politische Führung in der sogenannten Meiji-Restauration das Land gezielt von einem Feudalstaat zu einer der führenden Industrienationen der Welt. Die Phase rapiden Fortschritts war geprägt von Reformen in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Ein zweites Mal gelang ein solcher gesellschaftlicher Fortschritt nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und dem Übergang von Kaiserherrschaft zu Demokratie.

Nippons Platz in der Welt 

Nippon, das „Land der aufgehenden Sonne“, wie es im Japanischen heißt, ist eine der größten Volkswirtschaften der Welt. Trotz anhaltendem Wertverlust der Nationalwährung Yen liegt Japan in der auf dem US-Dollar basierenden Statistik auf Platz vier hinter Deutschland. Zugleich ist Japan eine der führenden Wissenschaftsnationen: Das Land belegt Platz fünf im Nature Index, der die wissenschaftliche Leistung von Institutionen und Nationen basierend auf der Anzahl und dem Anteil ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen in ausgewählten Zeitschriften misst. Japan hat zudem die drittgrößte Anzahl von Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern im 21. Jahrhundert hervorgebracht. Im Nobelpreis-Ranking liegt es gemeinsam mit Frankreich hinter den USA und dem Vereinigten Königreich. 

In der japanischen Gesellschaft gibt es zudem einen breiten Konsens zu starken Investitionen in Bildung und Forschung: Seit knapp 20 Jahren investiert das Land über drei Prozent seines Bruttoinlandprodukts in Forschung und Entwicklung und gehört damit zu einem kleinen Kreis derjenigen, die über einen langen Zeitraum besonders stark in Innovationen investieren. Zu diesen gehören ansonsten nur Israel, Schweden und Südkorea. Deutschland erreichte dieses Ziel erstmals 2014. 

Die japanische Privatwirtschaft spielt bei Entwicklung und Anwendung eine wichtige Rolle; rund 80 Prozent der Investitionen in Forschung und Entwicklung werden in der Industrie getätigt. Im Jahr 2023 waren die drei wichtigsten Investitionsbereiche für die industrielle Forschung und Entwicklung die Themen Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Quantentechnologie. Besondere Stärken Japans in der Forschung liegen, gemessen an der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, in der Physik, Chemie und klinischen Medizin. Gerade in der Medizin nimmt die Zahl japanischer Publikationen stark zu, und die japanische Regierung fördert diesen Wissenschaftszweig in besonderem Maße. Im Jahr 2015 wurde eigens eine Förderagentur für medizinische Forschung gegründet, die „Japan Agency for Medical Research and Development“, die direkt beim Premierminister unterstellten Cabinet Office verankert wurde. 

Die Bereiche KI, Quantencomputing und 6G-Technologie finden ebenfalls viel Beachtung und sind wichtige Bausteine für die Verwirklichung der von der Regierung angestrebten „Society 5.0“. Es ist die Vision einer supersmarten Gesellschaft, in der Innovation und Technologie das Fundament zur Lösung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme darstellen. Zum Erreichen der „Society 5.0“ wurde unter anderem das MOONSHOT-Förderprogramm bei der „Japan Science and Technology Agency“ (JST) eingerichtet. Das Programm setzt visionäre Ziele bis 2050 und fördert zu deren Verwirklichung disruptive Innovationen in zehn festgelegten Bereichen. 

Hierzu gehören die Freiheit von körperlichen und kognitiven Einschränkungen bis zum Alter von 100 Jahren, KI-basierte Roboter, nachhaltige Ressourcenkreisläufe und Lebensmittelversorgung, universelle Quantencomputer, die Kontrolle und Modifikation des Wetters und die Entwicklung einer nachhaltigen Energieversorgung mit Fokus auf Fusionsenergie. Technologietransfer zwischen Universitäten und der privaten Industrie sowie akademische Ausgründungen werden seit einem Vierteljahrhundert systematisch von der japanischen Regierung gefördert und sind ein fester Bestandteil der Wissenschaftslandschaft. Die Zahl der universitären Ausgründungen nimmt jährlich um 13 bis 14 Prozent zu, im Vordergrund stehen besonders Informations-, Bio- und Medizintechnologie.

Aktuelle Herausforderungen und Japans Antwort

Mittel- und langfristig macht sich die japanische Regierung Sorgen: Erstens haben drei Jahre Coronapandemie und die Schließung der japanischen Grenzen eine große Lücke in den akademischen Austausch gerissen. Die Zahl der im Ausland studierenden Japanerinnen und Japaner ging von fast 110.000 im Jahr 2019 auf knapp 1.500 im Jahr zurück, und auch die Zahl der internationalen Studierenden in Japan brach in der Pandemiezeit stark ein. Zweitens macht sich die japanische Regierung Sorgen, dass Japans Forschungsinstitutionen im internationalen Wettbewerb zurückfallen: Nur zwei Universitäten befinden sich derzeit unter den Top 100 im „Times Higher Education World University Ranking“.

Japans Anteil an den Top-10-Prozent der am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Publikationen fällt kontinuierlich, im Jahr 2023 lag das Land nur noch auf Platz zwölf. Drittens hat Japan ein Problem mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs: Mit 123 Promotionen pro eine Million Einwohner bildet das Land deutlich weniger junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus als die USA (585), Deutschland (315) oder Großbritannien (313).

Dafür verantwortlich sind unter anderem finanzielle Gründe und die begrenzten Berufsaussichten: Ein Promotionsstudium ist teuer, bezahlte Stellen als wissenschaftliche Hilfskräfte sind begrenzt und externe berufsbegleitende Promotionen sind wenig verbreitet. Die Entscheidung für eine Promotion bedeutet gewöhnlich die Entscheidung für eine Karriere an einer Universität oder einer Forschungseinrichtung. Japanische Firmen stellen aus Kostengründen ungern Promovierte ein; im Jahr 2023 waren gerade einmal fünf Prozent aller Neueinstellungen promoviert. 

Mit mehreren Förderinitiativen versucht die japanische Regierung seit 2022, diese Probleme zu adressieren. Für den akademischen Austausch wurden im Rahmenprogramm „J-MIRAI“ ambitionierte Mobilitätsziele festgelegt: Bis 2033 sollen 400.000 internationale Studierende pro Jahr nach Japan eingeladen werden und 500.000 japanische Studierende sowie Oberschülerinnen und -schüler ins Ausland gehen. 2019, vor Beginn der Coronapandemie, studierten bereits etwa 312.000 Studierende aus Übersee in Japan. Die große Herausforderung liegt darin, die Zahl von etwa 180.000 japanischen Studierenden und Oberstufenschülerinnen und -schülern auf eine halbe Million zu steigern.

Bis 2033 sollen 400.000 internationale Studierende pro Jahr nach Japan eingeladen werden.

Förderung wissenschaftlicher Forschung in der Spitze und in der Breite

Wissenschaftliche Forschung soll künftig über zwei Programme in der Spitze und in der Breite gefördert werden:

1. Das Programm „Universities for International Research Excellence“ (UIRE) will führende japanische Forschungsuniversitäten an die Weltspitze bringen. Es wird aus einem Investmentfonds im Umfang von zehn Billionen Yen (rund 60 Milliarden Euro) finanziert. Weitere Schwerpunkte liegen auf der Förderung des akademischen Nachwuchses und der Anwerbung von internationalen Talenten. In der ersten Auswahlrunde 2023 wurde nur die Universität Tohoku ausgewählt, weitere Universitäten sollen jedoch folgen.
 
2. Mit dem zweiten Förderprogramm „J-PEAKS“ unterstützt Japan regionale Universitäten bei der Entwicklung von individuellen Forschungsprofilen, bei der Internationalisierung sowie beim Technologietransfer. 2023 wurden zunächst zwölf Hochschulen ausgewählt, derzeit können sich weitere Universitäten bewerben. 

Schließlich ist ein „Aktionsplan zur Förderung von Doktoranden“ in Planung, der die Zahl der jährlichen Promotionen bis 2045 verdreifachen soll. 

Deutsch-japanische Zusammenarbeit 

Deutschland und Japan verbinden gemeinsame internationale und gesellschaftliche Herausforderungen sowie ähnliche Werte – beispielsweise die Förderung der Wissenschaftsfreiheit und der Fokus auf multilaterale Strukturen und Open Science. Dies wirkt sich auch auf den akademischen Austausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit aus: In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Hochschulkooperationen zwischen beiden Ländern verdreifacht. Zwar studieren japanische Studierende zu 70 Prozent in englischsprachigen Ländern, Deutschland ist nach China und Südkorea aber inzwischen das drittbeliebteste, nicht englischsprachige Zielland. 

Auch in der Forschung sind Deutschland und Japan eng verbunden: Gemessen an der Anzahl der wissenschaftlichen Co-Publikationen ist Deutschland für Japan das drittwichtigste Partnerland, hinter den USA und China; Japan liegt dagegen auf Platz 14 der deutschen Co-Publikationen mit internationalem Partner – wenn man intraeuropäische Kooperationen ausklammert, ist Japan das fünftwichtigste Kooperationsland, hinter den USA, China, Kanada und Australien.

Gemessen an der Anzahl der wissenschaftlichen Co-Publikationen ist Deutschland für Japan das drittwichtigste Partnerland.

Die neuen Förderprogramme Japans schaffen weitere Chancen für den akademischen Austausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Japan. Bilaterale Hochschulkooperationen stellen dabei den zentralen Motor für die Ausnutzung der Möglichkeiten dar. Das Mobilitätsprogramm „J-MIRAI“ wird von einer Erweiterung von Auslandsstipendienmöglichkeiten für japanische Studierende begleitet. Da das Interesse der japanischen Bewerbenden und ihre Auswahl von Studienzielen stark von den an der Heimathochschule angebotenen Informationen beeinflusst werden, können deutsche Hochschulen indirekt über ihre japanischen Partner Einfluss auf die Mobilität nehmen. Die japanischen Partnerhochschulen können zudem auch für internationale Studierende, die über eine Hochschulpartnerschaft nach Japan kommen, Stipendien bei der Japan Student Services Organization (JASSO) beantragen, was die Kosten eines Japanaufenthalts für deutsche Studierende senkt. 

Das UIRE-Programm – die „japanische Exzellenzinitiative“ – ist in erster Linie für deutsche Hochschulen relevant, die bereits über Kooperationen mit den japanischen Institutionen verfügen. Mehr Ansatzmöglichkeiten bietet das „J-PEAKS“-Programm und sein Fokus auf der Internationalisierung von bisher wenig internationalen regionalen japanischen Hochschulen: Hier entstehen attraktive Möglichkeiten für deutsche Hochschulen, neue Partnerschaften mit Japan einzugehen. Angesichts ihrer eher kleineren Studierendenzahlen und der engen Vernetzung mit der regionalen Wirtschaft stellen die japanischen regionalen Universitäten besonders für deutsche Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) sowie kleine und mittelgroße Universitäten attraktive Partner dar. 

Aufgaben für die Zukunft 

Die große Hürde für die Umsetzung der japanischen Pläne für den Ausbau des akademischen Austauschs und der wissenschaftlichen Kooperationen ist der stark gefallene japanische Yen: Zwischen Juni 2022 und 2024 hat die Währung gegenüber dem Euro fast um ein Viertel an Wert verloren. Dies erschwert selbst finanzierte Auslandsaufenthalte von japanischen Studierenden und jungen Forschenden und schränkt die Wirksamkeit der japanischen Förderprogramme ein.

Deutschland kann hier unterstützen, damit das Momentum zum Ausbau von Austausch und Wissenschaftskooperationen nicht an Fahrt verliert, zum Beispiel in Form von Stipendien und Austauschprogrammen für japanische Studierende und junge Forschende, durch Mittelbereitstellung für deutsch-japanische Forschungsprojekte und besonders durch die Intensivierung und den Ausbau von Hochschulkooperationen mit Japan, durch die starke Bande für die Zukunft geschaffen werden.

Axel Karpenstein (17. Juni 2024)
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Forschung und Lehre, Ausgabe 07/24.



 

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