Der Wiederaufbau beginnt jetzt

Prof. Dr. Joybrato Mukherjee mit Teilnehmenden der Ukraine-Konferenz „Bildung in Zeiten des Krieges“ Ende September in Berlin.

Der DAAD unterstützt ukrainische Hochschulen, Lehrende und Studierende auf vielfältige Weise. Bei der Konferenz „Bildung in Zeiten des Krieges“ am 27. und 28. September 2023 in Berlin zogen Vertreterinnen und Vertreter deutscher und ukrainischer Hochschulen sowie des DAAD eine Zwischenbilanz der unterschiedlichen, sehr erfolgreichen Förderprogramme. Die 170 Teilnehmenden diskutierten außerdem über neue Ideen, um den Wiederaufbau des Landes und die Erneuerung der ukrainischen Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen voranzubringen. 

„Der Wiederaufbau der Ukraine muss jetzt beginnen. Dabei kommt der Wissenschaft eine entscheidende Rolle zu“, sagt Dr. Klaus Birk, Leiter der Abteilung Projekte des DAAD. Am wichtigsten sei die Stärkung der Hochschulausbildung in vielen Fächern, von den Ingenieurwissenschaften bis zum Europarecht: „Um körperliche und psychische Verletzungen zu behandeln, zerstörte Gebäude und Infrastruktur wiederaufzubauen und Gesetze zu erarbeiten, die das Land näher an die EU heranführen, werden hochqualifizierte Fachkräfte gebraucht.“ Die deutsch-ukrainische Hochschulzusammenarbeit könne dazu einen wichtigen Beitrag leisten. 

„Sofort nach der Invasion haben sich die deutschen Hochschulen und der DAAD auf unsere Seite gestellt. Diese Solidarität ist für uns sehr wichtig“, sagt die Germanistikprofessorin Alla Paslawska von der Iwan-Franko-Universität Lwiw. Die Situation in Lwiw sei zwar deutlich besser als im Osten der Ukraine, das Risiko von Raketen- und Drohnenangriffen dennoch allgegenwärtig: „Die ständige Gefahr belastet jede und jeden.“ Die Hochschule sei unterbesetzt, weil viele Lehrende, vor allem Mütter mit Kindern, ins Ausland geflüchtet sind. „Auch viele Studierende leben derzeit im Ausland. Wir freuen uns, wenn sie dort Stipendien bekommen, sind aber auch besorgt, dass sie nicht mehr zurückkehren könnten“, sagt Paslawska. Besonders hilfreich sind aus ihrer Sicht Förderungen nach dem Vorbild des DAAD-Programms Zukunft Ukraine: Ukrainische Lehrende und Studierende an deutschen Hochschulen, die Stipendien aus diesem Programm erhalten, können auch nach der Rückkehr an ihre Heimathochschule weiter gefördert werden.

Dr. Kostyantyn Kyrychenko, Leiter des International Office der Staatliche Universität Sumy mit Nataliya Butych , Regionalkoordinatorin Osteuropa im International Office der Leibniz Universität Hannover

Zunehmende Internationalisierung

Vom Krieg besonders stark betroffen ist die Staatliche Universität Sumy (SumDU), die nur 27 Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt. Täglich gibt es mehrere Luftalarme, seit der russischen Invasion hat fast ein Drittel der Lehrenden und Studierenden die Stadt verlassen. In den ersten Kriegswochen wurde Sumy von der russischen Armee belagert und intensiv beschossen. Hochschulgebäude wurden beschädigt, Computer und Laboreinrichtungen zerstört. Trotzdem konnte die Hochschule ihren Lehrbetrieb in digitalisierter Form ohne Unterbrechung aufrechterhalten. Dabei arbeitete die SumDU in den Fächern Chemie und Physik eng mit der Universität Duisburg-Essen zusammen. „Die Unterstützung aus Deutschland hat uns sehr geholfen“, sagt Dr. Kostyantyn Kyrychenko, Leiter des International Office. Das Projekt wurde aus dem DAAD-Programm Ukraine digital finanziert, das deutschen Hochschulen nach Kriegsbeginn ermöglichte, digitale Lehrangebote ukrainischer Partner organisatorisch, technisch und finanziell zu unterstützen. 

In diesem Semester findet neben digitalen Angeboten auch wieder Präsenzlehre in Sumy statt. „Die Universität hat Luftschutzbunker gebaut, die mit Tafeln und Flipcharts, Tischen und Stühlen ausgestattet sind. Ein Bunker kann als Hörsaal und für Theateraufführungen genutzt werden“, berichtet Kyrychenko. Die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger ist trotz der Gefahr so hoch wie 2021. Ein Grund dafür sei die weit fortgeschrittene Internationalisierung seiner Hochschule, meint Kyrychenko. Gemeinsam mit der Fachhochschule Münster hat die Staatliche Universität Sumy seit 2019 mehr als 40 Mitarbeitende ukrainischer Hochschulen zu den Themen Internationalisierung und Wissensmanagement weitergebildet. „So ist ein großes Netzwerk entstanden, das für die weitere Internationalisierung der ukrainischen Hochschulen wichtig ist“, sagt Kyrychenko. Das Projekt habe auch Verbindungen innerhalb des Landes geschaffen, die es wegen der starken Konkurrenz zwischen ukrainischen Hochschulen vorher so nicht gegeben habe.

Synergieeffekte schaffen

Das Weiterbildungsprojekt der FH Münster und der SumDU wurde durch das DAAD-Programm Unterstützung der Internationalisierung ukrainischer Hochschulen gefördert – ebenso wie ein Schwesterprojekt der Leibniz Universität Hannover (LUH) mit der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw, aus dem ebenfalls ein aktives Netzwerk hervorgegangen ist. „Durch das Projekt ist es auch gelungen, ukrainischen Hochschulen internationale Sichtbarkeit zu verleihen“, sagt Nataliya Butych, Regionalkoordinatorin Osteuropa im International Office der LUH: 2022 waren die 32 teilnehmenden Hochschulen erstmals auf der Konferenz und Messe der European Association of International Education vertreten, der wichtigsten Fachveranstaltung zur Hochschulinternationalisierung in Europa.

V.l.n.r.: Die ukrainischen Studierenden Anastasiia Sapeha, Halyna Huzenko (beide von der Hochschule Anhalt) zusammen mit Yana Kolodach (Julius-Maximilians-Universität Würzburg)

Die LUH arbeitet seit Jahrzehnten mit Hochschulen in der Ukraine zusammen. „Über die Jahre sind sehr solide, zuverlässige Beziehungen zu unseren ukrainischen Partnern entstanden. Durch die zentrale Koordinierung, die Bündelung von Ressourcen, das Teilen von Kontakten und Know-how sowie den kontinuierlichen fachübergreifenden Austausch entstehen viele Synergieeffekte an unserer Universität“, sagt Nataliya Butych. Deshalb konnte die LUH schnell neue Projekte ins Leben rufen, um nach Hannover geflüchtete Lehrende und Studierende sowie ukrainische Hochschulen zu unterstützen. Dabei wurden auch neue wissenschaftliche Kontakte geknüpft, die jetzt vertieft werden sollen: Forschende der LUH und der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität wollen gemeinsam untersuchen, wie effektiv Farne Schwermetalle und Sprengstoffe aus Böden absorbieren können, die durch Beschuss verseucht wurden.

Konkrete Pläne für die Rückkehr

Auch die Hochschule Anhalt hat ihre langjährigen Beziehungen zu ukrainischen Partnern nach Kriegsbeginn intensiviert und erweitert. „Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Aktivitäten und Projekte gibt es nun in den Fachbereichen, in der Verwaltung und im Sprachenzentrum unserer Hochschule sehr viel Ukraine-Kompetenz“, sagt Anne Beer, Leiterin des International Office: „Die Lerneffekte aus jedem einzelnen Projekt bringen auch die anderen Projekte voran.“ Mit ukrainischen Studierenden, die im Rahmen von Zukunft Ukraine gefördert werden, fand im Sommer eine erste Exkursion zur VW-Manufaktur in Dresden statt. „Die Geförderten vernetzen sich mit unseren Industriepartnern und bekommen Impulse für ihre berufliche Entwicklung“, sagt Beer. „Im nächsten Jahr ist ein Workshop geplant, in dem sie konkrete Pläne für die Zeit nach der Rückkehr entwickeln können.“ Die Hochschule habe auch viele geflüchtete Lehrende aufgenommen, ergänzt Eduard Siemens, Professor für Kommunikationstechnik an der HS Anhalt: „Sie bleiben hier auf dem Stand der Forschung und können nach der Rückkehr ihre internationalen Erfahrungen und Kontakte nutzen.“

V.l.n.r.: DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, Oleksii Makaiev (ukrainischer Botschafter in D), Prof. Dr. Sabine Döring (Staatssekretärin im BMBF), Katja Keul (Staatsministerin im AA) und Robin Wagener (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen)

Konferenz „Bildung in Zeiten des Krieges“

Ukraine digital läuft nur noch bis Dezember 2023, Zukunft Ukraine endet 2024. „Beide Nothilfe-Programme haben sehr gute Ergebnisse erzielt. Umso bedauerlicher wäre es, wenn funktionierende Kooperationen nun unterbrochen werden müssten“, meint Klaus Birk vom DAAD. Auf der Konferenz „Bildung in Zeiten des Krieges – deutsch-ukrainische Hochschulkooperationen zwischen Nothilfe und Zukunftsgestaltung“, an der auch Bundestagsabgeordnete sowie Vertreterinnen und Vertreter des Auswärtigen Amts und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung teilnahmen, stellte der DAAD deshalb auch Ideen für neue Förderprogramme vor. Ziel ist es, das ukrainische Hochschulsystem nachhaltig zu unterstützen – und damit auch einem Braindrain entgegenzuwirken. Der DAAD hat ein deutsch-ukrainisches Hochschulnetzwerk nach dem Vorbild der Deutsch-Französischen Hochschule erarbeitet – ein Programm für binationale Studiengänge, in dessen Rahmen auch Sommerschulen und Gastaufenthalte deutscher Lehrender in der Ukraine gefördert werden können. „Vorerst kann die Zusammenarbeit natürlich nur digital stattfinden. Es ist aber wichtig, dass sich die Förderung flexibel an veränderte Situationen anpassen lässt“, erläutert Klaus Birk.

Einige deutsche Hochschulen haben schon konkrete Pläne für deutsch-ukrainische Studiengänge: Die Technische Hochschule Wildau hat über ihr Ukraine digital-Projekt, die „Wildau-Kharkiv IT Bridge“, viele neue Kontakte zu ukrainischen Partnern geknüpft, aus denen auch schon gemeinsame Publikationen und Forschungsvorhaben hervorgegangen sind. „Wir möchten die Zusammenarbeit in Lehre und Studium künftig gern ausbauen und gemeinsam mit der Charkiver Nationaluniversität für Radioelektronik ein Doppelabschlussprogramm gründen“, sagt Professorin Alina Nechyporenko von der TH Wildau. Bachelorstudierende aus drei Charkiver IT-Studiengängen könnten dann ihr letztes Studienjahr in Wildau verbringen und als besonders gefragte Fachkräfte in ihre Heimat zurückkehren.

Miriam Hoffmeyer (29. September 2023)


 

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