Partner für die Ukraine

Eröffnung des Infopoints der Nationalen Universität Kyiv-Mohyla Akademie (NaUKMA) an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Juli 2022

Mitte der 1970er-Jahre, als bundesdeutsche Universitäten praktisch keine Kontakte zu Hochschulen in den ehemaligen, sogenannten Ostblockstaaten hatten, schuf das DAAD-Programm Ostpartnerschaften erste Möglichkeiten des Austauschs. Inzwischen wird es intensiv auch dafür genutzt, ukrainische Studierende in ihrer infolge des russischen Angriffskriegs schwierigen Lage zu fördern und sichere Studien- und Forschungsaufenthalte in Deutschland zu ermöglichen.  

Hochschulkooperationen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Aus ersten Kontakten zwischen Forschenden der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und der Nationalen Universität Kyiv-Mohyla Akademie (NaUKMA) vor mehr als zwei Jahrzehnten entstanden nach und nach immer mehr gemeinsame Forschungsprojekte und Publikationen, Symposien und Sommerschulen, ein DAAD-gefördertes Forschungsnetzwerk und eine Ukraine-Gastdozentur an der JLU. 2022 schlossen beide Hochschulen ein Partnerschaftsabkommen. Wesentliche Grundlagen dafür habe die langjährige Förderung durch das Ostpartnerschaften-Programm des DAAD gelegt, meint Professorin Monika Wingender vom Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo) der JLU: „Geförderte Kurzaufenthalte machen es möglich, einander gut kennenzulernen. Das gibt dann den Anschub für weitere gemeinsame Projekte.“ 

Das DAAD-Programm Ostpartnerschaften wurde bereits 1974 ins Leben gerufen – im Zuge der neuen Ostpolitik, mit der die sozialliberale Koalition in Bonn die Beziehungen zu den sogenannten Ostblockstaaten verbessern wollte. In einer Zeit, als es zu Hochschulen jenseits des Eisernen Vorhangs praktisch keine Kontakte gab, schuf das Programm erste Möglichkeiten zum Austausch. Nach dem Umbruch von 1989/90 wurde es zum zentralen Instrument der deutschen Hochschulpolitik zunächst in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, später auch in Zentralasien und dem Südkaukasus. Neben dem Aufbau stabiler und nachhaltiger Hochschulpartnerschaften mit Mittel- und Osteuropa habe das Programm auch zum Ziel, die regionalspezifische Expertise auf beiden Seiten zu fördern, sagt die zuständige DAAD-Referentin Susanne Lüdtke, „sowohl in sprachlicher als auch in fachlicher und methodischer Hinsicht“.  

Teilnehmende des Herrnhäuser Symposiums der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Nationalen Universität Kyiv-Mohyla Akademie im Februar 2023

Dauerhafte Basis, hohe Flexibilität 

Eine Besonderheit des Programms ist, dass die Möglichkeit aneinander anschließender Förderungen nicht begrenzt ist. „Dadurch schafft das Programm eine dauerhafte Basis, auf der die Hochschulen ihre Zusammenarbeit in Forschung und Lehre nach und nach erweitern und vertiefen können“, sagt Lüdtke. Eine Evaluation 2018 bestätigte, dass dieser Hebeleffekt funktioniert: Mit relativ geringen Förderbeiträgen entfalte das Programm eine große Wirkung.  

Darüber hinaus ist seine Flexibilität sehr hoch: So bekamen nach dem russischen Überfall im Februar 2022 deutsche Hochschulen sehr schnell die Möglichkeit, bereits bewilligte Fördermittel auch außerhalb bestehender Partnerschaften für ukrainische Geflüchtete einzusetzen – sowohl für Stipendien als auch für Beratungs- und Betreuungsangebote. Die JLU Gießen nutzt beide Möglichkeiten. „Das Ostpartnerschaften-Programm ist ein wichtiges Förderinstrument, das ukrainischen Forschenden, Lehrenden und Studierenden einen Aufenthalt an der JLU ermöglicht“, sagt Monika Wingender. 

Wissenschaftlichen Diskurs zur Ukraine voranbringen 

Die Postdoktorandin Liudmyla Pidkuimukha, die an der NaUKMA studiert und promoviert hat, kam ab 2018 wiederholt zu kürzeren Forschungsaufenthalten nach Gießen. Als Stipendiatin des Ostpartnerschaften-Programms entwickelte sie 2021 mit einer Kollegin einen Tandem-Onlinekurs für deutsche und ukrainische Studierende. Im April 2022 konnte sie ihre Postdoc-Stelle an der JLU antreten. Ihr Forschungsthema ist ein Vergleich der sowjetischen mit der heutigen russischen Sprachenpolitik, unter anderem in der Ukraine. „Ich untersuche außerdem, wie Sprache, Kultur und Geschichte zu Werkzeugen der Putinschen Diktatur werden“, sagt sie. Die Sprachwissenschaftlerin engagiert sich auch in dem von der Universität Koblenz initiierten Netzwerk „Vision Ukraїne: Bildung, Sprache, Migration“, das zum Ziel hat, im wissenschaftlichen Diskurs und in der Öffentlichkeit regionalspezifisches Wissen über die Ukraine zu verbreiten. „Nach dem Krieg werden deutsche und europäische Unternehmen dort investieren, dazu brauchen sie Know-how über die Ukraine“, sagt Pidkuimukha. „Über das Netzwerk möchten wir möglichst viele Menschen zusammenbringen.“ 

Dr. Liudmyla Pidkuimukha ist Postdoktorandin an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Polina Repka, Doktorandin an der Fachhochschule Dortmund, untersucht ebenfalls ein Thema mit Ukraine-Bezug: Sie will Standards für das Management internationaler Hochschulprojekte entwickeln, welche die reale Situation der Teilnehmenden berücksichtigen, statt Idealbedingungen für alle vorauszusetzen. Als Forschungsgegenstand dienen ihr die digitalen Lehrveranstaltungen, mit denen die FH Dortmund ukrainische Partnerhochschulen dabei unterstützt, den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten: „Die Mitglieder der Projektteams sind über die Ukraine und ganz Europa verstreut, was die Zusammenarbeit sehr erschwert. Und natürlich führt der Krieg zu großem Stress und auch zu technischen Problemen.“ 

Ausweitung der Forschungsprojekte 

Die FH Dortmund arbeitet schon seit den 1990er-Jahren mit der Kyiv National University of Construction and Architecture (KNUCA) und der West Ukrainian National University (WUNU) in Ternopil zusammen. Dank der Förderung aus dem Ostpartnerschaften-Programm ab 2017 sei der Austausch deutlich intensiver geworden, sagt Professor Carsten Wolff vom Fachbereich Informatik der FH Dortmund: „Seither finden regelmäßig zwei bis drei Treffen pro Jahr statt, an denen viel mehr Forschende und Studierende teilnehmen. Dadurch sind auch mehr gemeinsame Forschungsprojekte und Publikationen entstanden.“ Zudem wurde die Kooperation auf Hochschulen in Saporischja und Lviv ausgeweitet.  

Polina Repka (Mitte) bei der Verteidigung ihrer Master-Thesis zusammen mit ihren Prüfern Prof. Dr. Christian Reimann (FH Dortmund) und Prof. Dr. Olena Verenych (KNUCA).

Polina Repka entschied sich 2019 nach einer Sommerschule in Dortmund für das Doppelmasterprogramm in Projektmanagement EuroMPM, bei dem die FH Dortmund mit der KNUCA und mehreren anderen Hochschulen in ganz Europa zusammenarbeitet. Ihre Masterarbeit schrieb sie, als schon Bomben auf Kyjiw fielen: „Um mich abzulenken, habe ich sehr intensiv gearbeitet.“ Im Herbst 2022 konnte sie zu einem Kurzaufenthalt nach Dortmund reisen, der aus dem Ostpartnerschaften-Programm gefördert wurde, und bekam im Anschluss ein Doktorandenstipendium des DAAD. „Ich bin sehr froh, dass ich hier jetzt in Sicherheit forschen kann“, sagt sie. 

Miriam Hoffmeyer (22. August 2023) 

 

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