Digitale Unterstützung für die Ukraine

Besuch ukrainischer Dozierender an der TH Wildau

Die Infrastruktur vieler Hochschulen im Osten der Ukraine ist zerstört, ein Großteil der Studierenden und Lehrenden aus den umkämpften Gebieten geflüchtet. Dennoch geht der Lehrbetrieb zumindest teilweise weiter. Möglich machen das digitale Lehrangebote, die der DAAD durch sein Programm Ukraine digital unterstützt.

Oleksii Varava studiert im dritten Jahr Theoretische Physik an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine, die im Frühjahr 2022 ein Hauptangriffsziel der russischen Truppen war, gerät bis heute immer wieder unter Beschuss.  „Auch das Haus, in dem ich gewohnt habe, wurde beschädigt.“ Seine Mitstudierenden, Dozentinnen und Dozenten sind in viele verschiedene Städte und Länder zerstreut. Er selbst lebt heute wieder in seinem Elternhaus im zentralukrainischen Krementschuk.

Dass er unter diesen schwierigen Bedingungen weiter studieren kann, verdankt Varava digitalen Lehrangeboten. Über Online-Kurse bleibt er in Kontakt mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen. Auch wenn das bisweilen herausfordernd ist. Oft steht er nach einem russischen Angriff ohne Strom da. „Meine Strategie ist, morgens früh aufzustehen, um so viel Tageslicht wie möglich zu haben. Immer wenn es Strom gibt, lade ich alle meine Akkus und Powerbanks auf. Und meistens arbeite ich mit dem Smartphone, weil es weniger Strom braucht als der Laptop.“

Physikstudent Oleksii Varava aus der Ukraine

Stipendien für 3.500 ukrainische Studierende in 2022

Die Kurse, an denen Oleksii Varava teilnimmt, werden von der Universität Duisburg-Essen (UDE) unterstützt. Im Rahmen des DAAD-Programms Ukraine digital – Studienerfolg in Krisenzeiten sichern arbeitet die UDE in den Fächern Chemie, Physik und Deutsch als Fremdsprache mit der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw, der Staatlichen Universität Sumy sowie der Nationalen Wassyl-Stus-Universität Donezk zusammen, die wegen der Kämpfe in der Region seit 2014 in der westukrainischen Stadt Winnyzja residiert.

Ukraine digital wurde bereits kurz nach dem Beginn der russischen Angriffe ins Leben gerufen. Seit Juni 2022 ermöglicht das Programm deutschen Hochschulen, Partneruniversitäten in der Ukraine in der digitalen Lehre zu unterstützen. „Ziel ist, dass ukrainische Studierende, egal wo sie sich gerade befinden, ihr Studium digital an ihrer Heimathochschule fortsetzen können“, sagt die zuständige DAAD-Referentin Samira Herb-Cless. 2022 wurden insgesamt 73 Projekte gefördert, an denen 65 deutsche Hochschulen beteiligt waren. Mehr als 3.500 ukrainische Lehrende und Studierende hätten in diesem Zeitraum Honorare beziehungsweise Stipendien erhalten, so Herb-Cless. Aktuell werden 47 Projekte an 44 Hochschulen unterstützt. Die Zahl der Studierenden, die von den digitalen Veranstaltungen profitiert haben, ist weit größer. Auch fachliche und didaktische Fortbildungen für ukrainische Lehrende werden aus dem Programm finanziert.

Zerstörter Hörsaal der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw

Rund 1.800 Studierende nutzen die digitalen Lehrangebote der drei Universitäten aus Charkiw, Sumy und Donezk. Zwanzig von ihnen erhalten Stipendien, unter ihnen Oleksii Varava: „Das DAAD-Stipendium hat mir ermöglicht, mein Studium fortzusetzen“, sagt er. Das Projekt zur Förderung der digitalen Lehre basiert auf schon bestehenden Kooperationen mit den drei ukrainischen Partnerhochschulen. Diese langjährige Zusammenarbeit habe den Start sehr erleichtert, sagt Julia Plainer, Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache der UDE. Die Strom- und Internetausfälle in der Ukraine würden bei der Planung natürlich berücksichtigt, asynchrone Lehrangebote spielten deshalb eine große Rolle. „Natürlich ist es eine Herausforderung, ein Seminar ohne direkten Austausch spannend zu gestalten. Den zusätzlichen Arbeitsaufwand können die ukrainischen Lehrenden nicht allein stemmen. Wir unterstützen sie dabei und tauschen uns ständig aus.“

Brücke von Wildau nach Charkiw

Seit Kriegsbeginn haben viele ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine Gehälter mehr bekommen, Verträge wurden nicht verlängert. Dank Ukraine digital können die Betroffenen weiter an ihren Heimathochschulen unterrichten und in der Wissenschaft bleiben. Die Technische Hochschule (TH) Wildau arbeitet im Projekt „Wildau-Kharkiv IT Bridge“ eng mit 60 Lehrenden von acht Charkiwer Hochschulen zusammen. Die brandenburgische Hochschule organisiert eine digitale Plattform zur Bereitstellung von Online-Kursen und Lehrmaterialien in Informatik, bietet technische Unterstützung und hat auch die Website programmiert, auf der Studierende sich anmelden und aus den rund 70 Modulen auswählen können. Auf unterschiedlichen Niveaustufen seien alle wichtigen Bereiche der Informatik vertreten, von Softwareentwicklung bis Cybersecurity, sagt Prof. Dr. Marcus Frohme von der TH Wildau: „Die Module können kein ganzes Studium ersetzen, aber Lücken schließen und Brücken schlagen.“

Oleksii Varavas Dozent Viacheslav Skliar im Physik-Labor der schwer beschädigten Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw.

Die ukrainische Professorin Dr. Alina Nechyporenko von der Charkiwer Nationaluniversität für Radioelektronik (ChNURE) ist Mitglied in Frohmes Forschungsgruppe. Nach Kriegsbeginn organisierten die beiden Forschenden zunächst Willkommenskurse für ukrainische Informatikstudierende, die nach Wildau geflüchtet waren. Das Programm Ukraine digital war für sie die Chance, einer weit größeren Zahl von ukrainischen Studierenden zu helfen. Asynchrone Lehrangebote spielen auch bei der Wildau-Kharkiv IT Bridge eine große Rolle, alle Veranstaltungen werden aufgezeichnet. „Die Menschen in der Ukraine müssen immer damit rechnen, dass ihre Stadt angegriffen wird und sie schnell in einen Schutzraum müssen“, sagt Alina Nechyporenko.

Die ukrainische Informatikstudentin Anastasiia Shabanova profitiert von der Wildau-Kharkiv IT Bridge.

Planen für den Wiederaufbau

Mehr als 2.500 ukrainische Bachelor- und Masterstudierende haben sich auf der Plattform angemeldet. Anastasiia Shabanova, die an der Informatikfakultät der ChNURE Künstliche Intelligenz studiert, ist in Charkiw aufgewachsen. Nach Kriegsbeginn flüchtete sie mit ihrer Familie zunächst in den Westen der Ukraine, später nach Polen. „Die Stabilität ist aus meinem Leben verschwunden“, sagt Shabanova. „In dieser dunklen Zeit ermöglicht es uns die Wildau-Kharkiv IT Bridge, weiterzuarbeiten.“ Zurzeit nimmt die 19-Jährige am Modul Datenvisualisierung teil: „Es ist sehr interessant und ich versuche trotz Verbindungsproblemen, mich aktiv am Kurs zu beteiligen. Ich möchte mein Studium unbedingt fortsetzen!“

Ukraine digital hat auch zum Ziel, bestehende Verbindungen zwischen deutschen und ukrainischen Hochschulen zu erhalten und neue zu schaffen — auch mit Blick auf den künftigen Wiederaufbau. Marcus Frohme und Alina Nechyporenko können sich sogar die Gründung einer binationalen IT-Fakultät an der ChNURE in Charkiw vorstellen. „Konkrete Pläne für die Zukunft sind in der aktuellen Situation nicht möglich“, sagt Frohme. „Aber wir würden nach dem Ende des Krieges gern eine deutsch-ukrainische IT-Fakultät einrichten und auf Dauer zusammenarbeiten.“

Miriam Hoffmeyer (7. Juni 2023)