Libyen: Bildung und Wissenschaft

Studierende am Rednerpult ihrer Dozentin.

Die wirtschaftliche Perspektive Libyens ist schlecht: die fast vollständig von Erdöl abhängige Wirtschaft ist durch Investitionsstau, Schädigung der Erdölinfrastruktur und durch gezielte Angriffe der Terrororganisation IS ernsthaft bedroht. Der Abfluss von Devisenreserven in Rentenzahlungen und großangelegte Subventionsprogramme könnten in überschaubar kurzer Zeit zum Staatsbankrott führen.


In den 1970er und 1980er Jahren zeichnete sich die Bildungspolitik Libyens durch eine weitsichtige und progressive Ausrichtung aus. Statistisch gesehen stand Libyen im Vergleich der arabischen Welt gut dar: nur 17,6 Prozent Analphabeten und der Anteil von Menschen mit höherer Bildung lag nur noch in Palästina und Jordanien höher. Der Staat führte die kostenlose Schulbildung für alle bis zum 15. Lebensjahr und die Schulpflicht ein.
Doch in den letzten zwei Jahrzehnten ist der Bildungsstandard in dem erdölreichen, bevölkerungsarmen Land stetig gesunken. Der Verfall des Bildungsniveaus ist hauptsächlich dem Fehlen einer vernünftigen Bildungspolitik und Ausgabenkürzungen im Bildungsbereich infolge des Wirtschaftsembargos gegen Libyen nach 1988 geschuldet. Darüber hinaus gab es nach dem Sturz Ghaddafis im universitären Bereich auch Verwüstungen und Schließungen als Folge diverser Kampfhandlungen . Die ideologisch bestimmte Abwendung vom Unterrichten europäischer Fremdsprachen und die Fixierung aufs Arabische in der Ära Ghaddafi wollten als Bekenntnis zu nationalem Selbstbewusstsein und einer Abkehr vom Kolonialismus verstanden werden. Diese Sprachpolitik führte Libyen jedoch in die Isolation innerhalb der internationalen Gemeinschaft und hatte fatale Auswirkungen auf das Bildungsniveau gerade im akademischen Bereich.  Wer auf internationalem Standard studieren wollte, musste dafür ins Ausland gehen.


Das libysche Bildungssystem ist stark zentralisiert und folgt in der Struktur des Bildungswesens im Wesentlichen einem abgewandelten anglo-amerikanischen System. Die Schulpflicht umfasst 9 Jahre und der Schulbesuch ist kostenlos. Auf die 9-jährige Grund- und Mittelstufe folgt eine 3-jährige Sekundarstufe, die in wissenschaftliche, literarische, technische und verschiedene berufsbildende Zweige gegliedert ist. Im technischen Zweig ist ab der 11. Klasse eine Spezialisierung auf den Gebieten Industrie, Agrarwissenschaften, Wirtschaft und Architektur möglich. Absolventen der beruflichen Sekundarschulen können in Libyen nicht zum Hochschulstudium zugelassen werden. Wie auch in anderen arabischen Ländern stellt nur der Abschluss der staatlichen Sekundarschulbildung mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung eine allgemeine Hochschulreife dar, für die anderen Zweige bestehen Fachbindungen.


Durch den Konflikt im Land sind auch die Hochschulen stark in Mitleidenschaft gezogen worden.  Trotz der instabilen Situation im Land funktionieren die Hochschulen, es findet Lehr- und Forschungsbetrieb statt, und in den letzten Jahren wurden Auslandsbeziehungen aufgebaut und gepflegt. Der Staat leistet wegen des langjährigen Bürgerkriegs und der Korruption so gut wie keine finanzielle Unterstützung für den Bildungsbereich. Es fehlt an Sachmitteln, Gehälter werden nicht bezahlt, und dennoch arbeiten Hochschulen daran, eine neue Generation für den Aufbau des Landes auszubilden und zu qualifizieren. Mit Bildung will man junge Leute aus den Milizverbänden herauslösen, sie an die Hochschulen zurückholen, um ihnen eine friedliche, konstruktive Zukunft zu weisen. Soziale Integration ist sehr wichtig. Milizsoldaten wieder an ein „normales“ Leben zu gewöhnen, auch mit soziopsychologischer und therapeutischer Hilfe, um Traumata zu überwinden, ist eine wichtige Aufgabe, die man in die Hochschulen trägt. Das erklärt auch, warum es derzeit in Libyen zahlreiche Neugründungen von Hochschulen gibt, häufig Filialen (branches) bestehender Universitäten. Gleichzeitig sind die branch offices aber auch Symptom der inneren Spaltung des Landes.


Libyen verfügt über 17 staatliche Universitäten und zahlreiche Technische Colleges  und Technische Institute sowie 13 Forschungseinrichtungen (Stand 2017). Die Zahl der Studierenden beläuft sich geschätzt auf etwa 385.000.  Technisch-industrielle und zukunftsorientierte Forschungseinrichtungen sind bislang kaum vorhanden, alle bestehenden Einrichtungen sind staatlich. Hochschulen expandieren seit den 80er Jahren stark und bieten eine allgemeine Basisausbildung. Um wissenschaftliche Forschung im Dienste der Entwicklung und des gesellschaftlichen Fortschritts zu leisten, fehlt es an Kompetenzen und Ausstattung.


Private Hochschulen existieren, sind jedoch keiner staatlichen Qualitätskontrolle unterworfen und es kann keine Aussage über ihre Qualität gemacht werden.
Nach Abschluss eines 4- bis 5-jährigen Studiums wird der akademische Grad Bakkalaureus/Idjaza bzw. in geisteswissenschaftlichen Fächern die Lisans erworben. Das Postgraduiertenstudium, das mindestens 2 Jahre dauert und eine wissenschaftliche Arbeit umfasst, wird mit dem Master abgeschlossen. Dieser Abschluss ist Voraussetzung für die Zulassung zur Promotion.


Im Bereich der Hochschulen sieht es in Libyen ähnlich aus wie in arabischen Nachbarländern: Zwar gibt es viele Hochschulabsolventinnen und -absolventen, doch stellen diese gleichzeitig den höchsten Anteil an der geschätzten Arbeitslosenquote von 20 Prozent, wobei die meisten Arbeitslosen unter 30 Jahre alt sind. Dies gilt auch für technische und naturwissenschaftliche Fächer, die in dem rohstoffreichen Land von besonderer Bedeutung sind. Die Absolventinnen und Absolventen verfügen in der Regel nicht über praxisrelevante Fertigkeiten bzw. diese sind nicht Bestandteil der Studienpläne.


Die schlechte Qualität der Bildung lässt sich auf die veralteten Lehrpläne und die wenig interaktive Lehrmethodik zurückführen. Moderne Technik und Ausstattung sind nicht vorhanden oder kommen selten zum Einsatz. Soft skills und Fremdsprachen spielen in der Ausbildung kaum eine Rolle. Erfinder- und Forschergeist bleiben aufgrund mangelnder Ermutigung zur eigenständigen wissenschaftlichen Forschung auf der Strecke. Es fehlt aber auch an strategisch denkenden Bildungspolitikern, die konzeptionell eine umfassende, nationale Strategie für eine Reform der Bildungspolitik entwerfen und umsetzen.

Verfasser: Informationszentrum Tunis