„In der Maghreb-Region schlummert viel Potenzial“

Seit Dezember 2024 leitet Salha Ennajeh die DAAD-Außenstelle Tunis. Die Lehrerin für Germanistik und Romanistik mit einem Abschluss der Universität Tübingen kam 2011 mit einem DAAD-Stipendium in das Land, aus dem ihre Eltern Anfang der 1970er-Jahre nach Deutschland emigrierten. In ihrer neuen Position will Ennajeh die Präsenz des DAAD vor allem in abgelegeneren Regionen des Maghreb erhöhen. Die Außenstelle Tunis ist auch für Algerien, Libyen und Marokko zuständig.
Am 17. Dezember 2010 überschüttete sich der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid aus Verzweiflung über seine aussichtslosen Lebensumstände mit Benzin und verbrannte sich selbst. Es folgten Demonstrationen und Massenproteste in der Hauptstadt Tunis, die schon am 14. Januar 2011 zum Sturz des Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali führten. Auch in Ägypten und vielen weiteren arabischen Ländern lehnten sich die Menschen gegen die damaligen Machthaber auf.
Frühes Epizentrum des sogenannten arabischen Frühlings waren die Demonstrationen auf der Avenue Habib Bourguiba. Auch eine junge Lehrassistentin der Université de Carthage mischte sich unter die Demonstrierenden. Sie war kurz zuvor von Ulm aus in die tunesische Hauptstadt gekommen, um das Land ihrer Eltern besser kennenzulernen, die in den 1970er-Jahren nach Deutschland ausgewandert waren. „Wir waren zuvor immer nur kurz in den Sommerferien dort und ich dachte, nach meinem Abschluss wäre das doch eine gute Gelegenheit, einmal in das echte Leben dort einzutauchen“, erinnert sich Salha Ennajeh, die seit dem 1. Dezember 2024 die DAAD-Außenstelle Tunis leitet.
Von Ulm nach Tunis
Dass sie das „echte Leben“ in Tunesien in dieser hochdynamischen Phase kennenlernen durfte, empfindet Ennajeh in der Rückschau als Geschenk. „Es war so spannend zu sehen, wie sich die Universitäten in kürzester Zeit wandelten. Von heute auf morgen tauchten damals plötzlich Frauen und Männer in traditioneller Kleidung auf. Die Menschen haben sich plötzlich getraut, ihre Religion in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das war unter Ben Ali strikt verboten. Diese Freiheit wurde jetzt in großen Zügen ausgekostet.“

An die Université de Carthage kam Ennajeh mit einem Stipendium des DAAD. Studiert hatte sie an der Universität Tübingen und dort einen Abschluss in Germanistik und Romanistik auf Lehramt erworben. Obwohl Ennajeh einen starken familiären Bezug zum Land hatte, fiel ihr die Entscheidung, länger in Tunis zu leben, nicht ganz leicht. „Ich war etwas unsicher, wie schnell ich mich an das Leben vor Ort akklimatisieren konnte.“
Die Sorgen waren unbegründet. An der Universität war sie als erste Lehrassistentin für Deutsch schnell hochgeschätzt. Über ihren Job an der Uni, aber auch das Netzwerk, auf das sie als DAAD-Alumna zurückgreifen konnte, hatte sie schnell zahlreiche Möglichkeiten, weiterhin an der Schnittstelle zwischen deutscher und tunesischer Kultur zu arbeiten. Dazu gehörten auch viele Anfragen verschiedener deutscher Organisationen. „Also sagte ich mir: Wenn das so gut läuft, kann ich auch gleich noch eine Weile hierbleiben.“
Gut ausgebildete Fachkräfte
Daraus sind inzwischen 14 Jahre geworden, eine Zeit, in der Ennajeh das Land sehr gut kennen und schätzen lernen konnte. Die aktuellen politischen Entwicklungen sieht sie mit Sorge. Obwohl die Proteste Ende 2010 zumindest in Tunesien zu einer nachhaltigen Demokratisierung führten, mit nach wie vor freien Wahlen und einer gut ausgebildeten und demokratisch orientierten Mittelschicht, beobachtet sie regressive Tendenzen.
Ist der Arabische Frühling in Tunesien gescheitert? So weit würde Ennajeh nicht gehen. Besonders im Bereich Ingenieurwissenschaften und Medizin verfüge das Land über sehr gute, nach französischem Vorbild ausgebildete Fachkräfte. Zwar finden diese im Augenblick noch viel zu wenig Möglichkeiten, um auf dem heimischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aber die Regierung beginnt, gegenzusteuern. Abgesehen davon stellen die Fachkräfte auch in der europäischen Diaspora einen ernst zu nehmenden Wirtschaftsfaktor für das Land dar. „Brain-Drain ist kein so großes Problem für Tunesien, wie es von vielen ausländischen Analysten regelmäßig angemahnt wird. Tunesien ist ein klassisches Migrationsland und Migration teilweise auch politisch gewollt.“

Netzwerke in der Region ausbauen
Hier komme allerdings die Arbeit des DAAD vor Ort zum Tragen. „Das Problem der mangelnden Fachkräfte vor Ort hängt mit deren zwar fachlich exzellenten, aber zu wenig fachbezogenen Ausbildung zusammen“, erklärt Ennajeh. Eine stärkere Anwendungsorientierung fördert der DAAD mit zahlreichen DAAD-Programmen. Auch Kooperationsprojekte im Rahmen des Ta’ziz-Programms sind in Tunesien stark nachgefragt, knapp 30 dieser Partnerschaften, die zum Beispiel die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen und jungen Erwachsenen in der MENA-Region umfasst.
Das Programm läuft noch bis Ende 2025, die Abschlusskonferenz findet in Tunis statt. „Wir bringen alle Projektpartner auf deutscher und arabischer Seite zusammen und reflektieren darüber: Was lief gut? Welche weiteren Fördermöglichkeiten gibt es?“, so Ennajeh. Und es gibt im laufenden Jahr noch einen anderen Grund zu feiern: das zehnjährige Bestehen der Maghreb Sommerakademie für Deutschlernende aus Tunesien, Marokko und Algerien. Überhaupt hat sich Salha Ennajeh vorgenommen, die Aktivitäten des DAAD noch stärker in andere Länder der Region zu tragen. Offiziell betreut die AS Tunis neben Tunesien auch die Nachbarländer Algerien, Libyen und Marokko. „Ich denke, besonders in Marokko und Algerien schlummert noch viel Potenzial.“
An ihrer neuen Wahlheimat schätzt die in Deutschland aufgewachsene Salha Ennajeh die höhere Flexibilität, mit der man gemeinsame Projekte angeht – obwohl sie als Deutsche durchaus mit einem ausgeprägten Hang zur Planung und Pünktlichkeit ausgestattet ist. „Das klingt vielleicht ein wenig widersprüchlich. Aber ich bin auch immer noch oft in Deutschland und liebe es, zwischen den beiden Kulturen hin- und herzuwechseln.“
Klaus Lüber (30. Januar 2025)