Leibniz-Preis: DAAD-Alumnus Professor Jörn Leonhard im Porträt
Vier DAAD-Alumni und -Alumnae erhalten 2024 den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für ihre herausragende Wissenschaft. Einer von ihnen ist der Historiker Professor Jörn Leonhard von der Universität Freiburg. Kriege und Krisen im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – für seine einschlägigen Veröffentlichungen zu diesen auch aus heutiger Perspektive besonders relevanten Themen ist Leonhard weit über die Grenzen seines Fachgebiets hinaus bekannt.
Die erste wichtige Weiche für seine berufliche Karriere stellte seine Geschichtslehrerin in der Schule, erzählt Jörn Leonhard. Sie sagte: „Frag nicht nach Broterwerb, sondern folge deinen Interessen. Nur dann wirst du in einer Durststrecke für deinen Beruf auch die Extrameile laufen.“ Also begann er, in Heidelberg Geschichte zu studieren – mit breit gefächertem Interesse von der Antike über das europäische Mittelalter bis zur Neuzeit – und wurde dabei von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Noch vor seinem ersten Studienabschluss in Deutschland absolvierte er 1992 einen Master an der Universität Oxford – ein Studienaufenthalt, zu dem ihm einer seiner Professoren geraten hatte. Für Leonhard war der Aufenthalt im Ausland ein Wendepunkt.
Prägender Perspektivenwechsel
„In Oxford kristallisierte sich mein Forschungsinteresse heraus: die vergleichende Arbeit über Liberalismus und politische Theorie im 19. Jahrhundert“, sagt Leonhard. Dafür wurde er dann auch als Wissenschaftler weltweit bekannt. Hingearbeitet habe er auf das Thema nicht, sagt er. Die Ausrichtung seiner Interessen war vor allem der völlig neuen und spannenden Umgebung geschuldet: „In der Zeit kurz nach dem Mauerfall und der Wende begegnete ich in Oxford einem unglaublichen Interesse für Neuere deutsche Geschichte und befand mich in der privilegierten Situation, im internationalen Kreis über das eigene Land debattieren zu können – das hat mich entscheidend inspiriert.“ Und noch eine andere Erfahrung prägte den heutigen Leibniz-Preisträger: „Oxford war kaltes Wasser: höchste akademische Ansprüche in einer anderen Sprache. Da lernt man realistisch einzuschätzen, was man leisten und sich zutrauen kann, und das war essenziell für alles, was folgte.“
DAAD-Fachlektor in Oxford
Für seine Promotion arbeitete Jörn Leonhard in Heidelberg, London, Paris und Rom. Das eigene Zutrauen für diese anspruchsvolle Forschungsarbeit im europäischen Vergleich war in Großbritannien gewachsen. Noch bevor er die Arbeit abgeschlossen hatte, stellte sich die nächste wichtige Weiche für seine Karriere: die Chance auf ein DAAD-Fachlektorat in Oxford in Kombination mit einem Research Fellowship an der Modern History Faculty. Deutschland zwischen Promotion und Habilitation für fünf Jahre zu verlassen, schien mit Blick auf eine Universitätskarriere damals ein mutiger Schritt. „Aber mein Doktorvater hat mir zu der Bewerbung ins Ausland geraten und die wichtige Botschaft meiner Geschichtslehrerin wiederholt: Mach, was du willst, nur dann bist du gut.“ Jörn Leonhard ergriff die einmalige Chance und lehrte und forschte daraufhin von 1998 bis 2003 als DAAD-Fachlektor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Oxford. „Diese Jahre gehören persönlich, beruflich und akademisch zu meinen glücklichsten Jahren.“
Wertschätzung der Geschichtswissenschaft
Seiner akademischen Karriere in Deutschland haben die fünf Jahre Forschung und Lehre im Ausland nicht geschadet – ganz im Gegenteil. Mit einem Reintegrationsstipendium des DAAD und einem Junior Fellowship am Historischen Kolleg München fasste er ab 2003 in Deutschland schnell wieder Fuß und habilitierte sich 2004 in Heidelberg mit einer tausendseitigen und später mehrfach preisgekrönten Forschungsarbeit zum Zusammenhang von Krieg und Nationenbildung im synchronen Vergleich von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Es folgte die erste Dozentur an der Universität Jena und 2006 der Ruf an die Universität Freiburg, wo er seitdem lehrt und forscht. Sein 2014 veröffentlichtes Buch „Die Büchse der Pandora“ ist bis heute ein mehrfach ausgezeichnetes internationales Standardwerk zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Seine neueste Veröffentlichung von 2023 „Über Kriege und wie man sie beendet“ hat mehr Bedeutung für die Gegenwart erlangt, als sich der Historiker zu Beginn der Arbeit daran vorstellen konnte. Die Auszeichnung mit dem Leibniz-Preis empfindet Leonhard als eine besondere Wertschätzung der Relevanz von international vergleichender Geschichtswissenschaft.
Fördern und Vertrauen schenken
Mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Höhe von 2,5 Millionen Euro will Jörn Leonhard unter anderem an Doktorierende und Postdocs zurückgeben, was ihm selbst geschenkt wurde und eine eigene Karriere ermöglicht hat: Förderung, Vertrauen und Forschungsfreiheit. „Aufgrund meiner Erfahrungen als junger Postdoc in Oxford sage ich heute jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in meinem Team: Eine längere Zeit im Ausland ist eine enorme Chance. Allein eine andere Sprache zu lernen und in ihr zu kommunizieren, ist ein wenig wie neu zur Welt zu kommen. Studieren und forschen im Ausland verändert den persönlichen Blick auf die Welt und die eigene Wissenschaft.“
Bettina Mittelstraß (29. Februar 2024)