Beeindruckende Vielfalt: Zweites Jahrbuch der Zentren für Deutschland- und Europastudien
Im Dezember 2022 ist erstmals ein Jahrbuch der Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) erschienen. Ab August 2024 sind die Beiträge für die zweite Ausgabe des Jahrbuchs nach und nach online verfügbar. Dr. Georg Krawietz, Leiter des Referats „Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität“ im DAAD, gibt erste Einblicke in die thematische Vielfalt der Publikation und welche Beiträge ihn besonders beeindruckt haben.
Herr Krawietz, beginnend im August 2024 werden die Beiträge des zweiten ZDES-Jahrbuchs veröffentlicht. Was erwartet die Leserinnen und Leser?
Wie bereits im ersten Jahrbuch: eine Vielfalt wissenschaftlicher Beiträge, die an den ZDES erarbeitet und in Fachpublikationen erstveröffentlicht wurden – viele davon im Peer-Review-Verfahren. Wir haben diesmal besonders darauf geachtet, die fachliche Breite der multidisziplinär arbeitenden Institute noch besser abzubilden – etwa indem die Anzahl möglicher Texteinreichungen von einem auf bis zu zwei Artikel erhöht wurde. Nach 17 Beiträgen im ersten Jahrbuch umfasst die zweite Ausgabe nun 29 Artikel. Schwerpunkte bilden die Fächer Politik-, Geschichts- und Literaturwissenschaften. Hinzu kommen Beiträge aus den Themenfeldern Rechtswissenschaft, Philosophie, Soziologie, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache (DaF). Auch eine Erstveröffentlichung ist diesmal dabei: der vom Bielefelder Standort des ehemaligen ZDES St. Petersburg eingereichte Text „Ukrainian Refugees in Germany: A hidden Conflict of Interests is inevitable but solvable“ des ukrainischen Soziologen Taras Romashchenko
An den ZDES wird vor allem zur Rolle Deutschlands in Europa geforscht; die Beiträge werden von den insgesamt 19 Zentren weltweit ausgesucht. Inwieweit ist es spannend zu sehen, welche unterschiedlichen Perspektiven die einzelnen Standorte einnehmen?
Es ist schon beeindruckend, welche thematische Vielfalt sich in den Beiträgen spiegelt. Hier ein paar Beispiele: Der Text „Verspätete Rechnung für den Krieg. Diskussionen über Reparationsforderungen an Deutschland in Polen 2004–2023“ des polnischen Historikers Krzysztof Ruchniewicz beschäftigt sich mit der historischen Aufarbeitung eines Aspektes der deutschen Kriegsschuld. „Surprised by Love. Mann, Kafka, Beckett“ des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Dowden widmet sich der Komplexität und oft widersprüchlichen Natur der Liebe in der Literatur. Der Germanist Nadjib Sadikou analysiert in „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“ die Auseinandersetzung der beiden Autoren Saša Stanišić und Iris Wolff mit den Themen Migration und Exil. Und Alissa Bellotti, Postdoktorandin am Center for German & European Studies der Universität Haifa, interessiert sich in ihrem Beitrag „The rock star and the dictator. Udo Lindenberg's East German celebrity diplomacy“ dafür, welche Rolle der Rockstar in den diplomatischen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland während des Kalten Krieges spielte.
Gibt es Beiträge, die Sie besonders überrascht haben?
Ja, die gibt es. Zum Beispiel Shoha Tamahide: „Die Grenze zwischen männlicher Homosexualität und Freundschaft in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Studie über die Aktivitäten der homosexuellen Emanzipationsbewegung in der Eulenburg-Affäre“. Der mit Blick auf die unterschiedlichen Tendenzen, Akteure und Medien zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen im kaiserzeitlichen Deutschland kulturhistorisch unbedingt lesenswerte Beitrag wurde auf Japanisch erstveröffentlicht und gehört zu insgesamt fünf, die aus dem Japanischen, Chinesischen und Französischen für das zweisprachig (auf Deutsch und Englisch erscheinende) Jahrbuch übersetzt wurden. Eingereicht wurde er vom Zentrum für Deutschland- und Europastudien (DESK) an der Universität Tokyo, Komaba.
Inwieweit finden sich aktuelle Herausforderungen wie der Rechtsruck der Europäischen Union sowie die Kriege in der Ukraine und in Gaza im Heft wieder?
Die beiden erstgenannten Themen finden in der aktuellen Forschung der Zentren deutlichen Widerhall. Insgesamt ein halbes Dutzend der für das Jahrbuch vorgeschlagenen Themen befasst sich damit. Die Texte wurden von Zentren in den USA (Georgetown University, Washington, D.C.), Israel (Haifa), China (Beijing) und auch dem Bielefelder Standort des ehemaligen Zentrums in Russland (St. Petersburg) eingereicht. Die Förderung des ZDES St. Petersburg, bis 2022 Kooperationspartner der Universität Bielefeld, musste in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet werden. Umso mehr freuen wir uns, neben dem erwähnten Text von Taras Romashchenko auch den Artikel „Sovereignty, Discipline, Governmentality, and Pastorate: The Ménage à Quatre of Contemporary Authoritarian and Right-Wing Populist Power“ des ehemaligen deutschen Direktors des ZDES an der Universität Bielfeld, Andreas Vasilache, veröffentlichen zu können. Darin untersucht der Politikwissenschaftler die verschiedenen Dimensionen und Mechanismen der Macht, die in modernen autoritären und rechtspopulistischen Regimen zum Einsatz kommen.
Interview: Klaus Lüber (9. August 2024)