„Wir brauchen Frühwarnsysteme für die Zukunft“
„Der Mensch ist das Wesen, das die Fähigkeit hat, sich die Zukunft so detailliert vorzustellen, dass er sie erschaffen kann“, schreibt Florence Gaub in ihrem 2023 erschienenen Bestseller „Zukunft“. Die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin und Zukunftsforscherin ist seit vergangenem Jahr Forschungsdirektorin des NATO Defense College (NDC) in Rom, einer Militärakademie zur Ausbildung von hochrangigen Offizieren, Diplomaten und Beamten. Mit ihrem Team analysiert sie mögliche Zukunftsszenarien, die von erwarteten Entwicklungen abweichen. Im Gespräch erklärt die DAAD-Alumna, weshalb sie trotz globaler Krisen optimistisch in die Zukunft blickt, warum Diversität bei Zukunftsfragen unabdingbar ist und wie ihr DAAD-Stipendium ihr Leben grundlegend geprägt hat.
Frau Gaub, Sie sind Zukunftsforscherin. Wenn Sie sich mögliche Szenarien zu aktuellen globalen Krisen anschauen: Stimmt Sie das eher optimistisch oder pessimistisch?
Es ist leicht, sich in negativen Gedanken zu verfangen. Umso wichtiger ist es, sich bewusst zu machen, dass es ja immer die Chance gibt, im positiven Sinne gegenzusteuern. Natürlich sind die Herausforderungen gewaltig – denken wir an den Klimawandel. Aber wir können Lösungen finden oder zumindest die Konsequenzen dessen abschwächen, was da auf uns zukommt. Negativität führt oft zu Untätigkeit. Wir sollten aber aktiv werden. Dann haben wir die Kontrolle, dann können wir Entwicklungen steuern. Man sollte sich auch nicht von emotionalen Schlagzeilen einschüchtern lassen. Wer sich auf Fakten und Lösungsansätze konzentriert, erkennt schnell, dass wir der Zukunft nicht ausgeliefert sind, sondern sie gestalten können.
Woran arbeiten Sie und Ihr Team momentan?
Unsere Abteilung forscht zu Zukunftsszenarien, die für die NATO relevant sind – und dabei speziell solche, die in den nächsten zwei bis fünf Jahren eintreten könnten. Uns interessiert weder das, was gerade passiert, noch das, was in einer noch ferneren Zukunft zu erwarten ist – etwa im Jahr 2040 oder 2050. Damit beschäftigen sich andere in der NATO. Inhaltlich loten wir derzeit Szenarien zur Zukunft der Kriegsführung aus. Dabei geht es etwa um die strategische Perspektive Russlands oder Fragestellungen zu den Entwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika. Wir untersuchen auch, wie bestimmte Faktoren – etwa der Klimawandel – die geopolitische Landschaft verändern könnten.
Mit welchen Methoden entwickeln Sie solche Szenarien?
Es geht uns nicht darum, im Detail wissen zu wollen, was passieren wird. Stattdessen behalten wir sämtliche Möglichkeiten im Blick und beschränken uns dann auf diejenigen, die für die NATO wirklich relevant sind. Das Ziel ist es, ein intellektuelles Frühwarnsystem zu entwickeln, das anzeigt: „Diese Entwicklung birgt Gefahren“. Oder: „Diese Zukunft sieht gut aus. Wie erreichen wir sie?“ Dabei konzentrieren wir uns übrigens in der Regel viel zu sehr auf die Effekte neuer Technologien, statt auch andere Wirkungsfelder im Blick zu behalten. Wenn man sich zum Beispiel alte Science-Fiction-Filme wie „Blade Runner“ oder Filme aus den 1960er-Jahren ansieht, liegt der Fokus immer sehr stark auf den neuen Technologien und wie sie das Leben der Menschen verändern. Man erfährt aber wenig darüber, wie sich beispielsweise Geschlechterbeziehungen in der Zukunft entwickeln werden oder in welchem Verhältnis die Menschheit in Zukunft zur Umwelt steht. Hier können wir die Vorstellungskraft nutzen, um wie mit einer intellektuellen Taschenlampe in Bereiche hineinzuleuchten, die sonst keiner betrachtet. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Statt einer möglichen chinesischen Invasion in Taiwan, mit der sich ja gerade viele beschäftigen, erforscht mein Team, was passiert, wenn die Nordseeroute geöffnet wird und welche Auswirkungen das auf die Beziehungen zu Russland und China hat.
Wie gelingt das?
Um Kreativität zu fördern, muss man Fehler zulassen und ein Umfeld schaffen, in dem die Menschen keine Angst haben, auch scheinbar verrückte Ideen zu äußern. Niemand sollte in einem solchen Kontext gerügt oder ausgelacht werden. Wir brauchen partizipative Prozesse, in denen sich jeder in die Organisation und ihre Ziele einbringen kann. In meinem Team haben wir flache Hierarchien. Ich achte darauf, dass jeder ein Mitspracherecht hat, woran wir gerade arbeiten und wie wir uns strategisch ausrichten. Natürlich sind auch Zeit, Training und Ressourcen essenziell, um zu guten Ergebnissen zu kommen.
Sie arbeiten in einem Bereich, der traditionell von Männern dominiert wird. Welche Veränderungen haben Sie in den vergangenen Jahren beobachtet und was muss geschehen, damit mehr Frauen in Führungspositionen kommen?
Als ich 2009 zum ersten Mal an die NATO-Militärakademie kam, war das Umfeld noch ganz anders: Gleichstellungsfragen spielten damals noch keine Rolle. Dennoch habe ich als Wissenschaftlerin überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Diskriminierung gab es kaum, am Ende zählte nur, ob ich meine Arbeit gut mache oder nicht. Das Umfeld hat mir die Möglichkeit gegeben, mich zu entwickeln, wobei es sicher von Vorteil war, dass ich kein Problem damit hatte, in diesem Fall einer Minderheit anzugehören. Vielleicht arbeitet man als Frau im Kontext Sicherheit und Verteidigung und fühlt sich nicht die ganze Zeit wohl. Das mag ja sein. Was mich dagegen immer motiviert hat, war der Gedanke, dass ich meine Arbeit nicht nur für mich selbst mache. Sondern, dass ich eine Vorreiterrolle einnehme für alle Frauen, die nach mir kommen. Mir geht es darum, vor allem jungen Frauen Mut zu machen, diesen Weg zu gehen. Auch wenn es mal unangenehm wird, sollte man immer daran denken: Ich mache das nicht nur für mich selbst, sondern für alle, die nachkommen.
Welche Auswirkungen erwarten Sie insbesondere in Bereichen wie Sicherheit und Verteidigung, wenn es künftig mehr Frauen in Führungspositionen gibt?
Studien zeigen, dass vielfältig zusammengesetzte Gruppen – insbesondere solche mit einem höheren Frauenanteil – tendenziell bessere Ergebnisse bei Prognosen und strategischer Planung erzielen. Frauen hören im Allgemeinen besser zu und sind eher zur Zusammenarbeit bereit, was bei der Untersuchung von Zukunftsfragen von entscheidender Bedeutung ist. Es geht nicht darum, eine Debatte zu gewinnen. Viel wichtiger ist es, den eigenen Standpunkt auf Grundlage der Perspektiven anderer anzupassen. Hier hat sich die NATO im Laufe der Jahre deutlich verändert. Es gibt heute eine viel größere Sensibilität für Gleichstellungsfragen. Zum Beispiel bewegen wir uns in Richtung eines ausgewogeneren Geschlechterverhältnisses in Führungspositionen. Von 2025 an werden wir eine Dekanin haben und auch die Leitung der akademischen Planung wird eine Frau übernehmen. Der Wandel kommt, aber er braucht Zeit.
Wie, denken Sie, wirkt es sich auf die Ergebnisse strategischer Diskussionen aus, wenn vielfältige Perspektiven in strategische Diskussionen einfließen?
Je vielfältiger ein Team ist, desto besser kann es die Unwägbarkeiten zukünftiger Entwicklungen erfassen. Denn Vielfalt bringt unterschiedliche Sichtweisen mit sich, die notwendig sind, uns ein entsprechend umfassenderes Bild zukünftiger Szenarien zu vermitteln. In meinem Team bemühen wir uns deshalb um eine möglichst breite Mischung von Alter, Geschlecht und Herkunft. Das bereichert unsere Arbeit ungemein.
Ohne den akademischen Austausch und die Möglichkeit, die Perspektive anderer Kulturen kennenzulernen, würden wir an Tiefe, Kreativität und Verständnis verlieren.
Welche Rolle spielt der akademische Austausch für Sie persönlich und für Ihre Arbeit?
Der akademische Austausch zwischen Kulturen ist durch nichts zu ersetzen. Er ist kein Luxus, sondern unverzichtbar. Andere Perspektiven kennenzulernen, regt das eigene Denken an. In München zu studieren war zum Beispiel großartig, aber in Paris habe ich gelernt, meine Forschung zu strukturieren. Beide Erfahrungen haben mich als Wissenschaftlerin geprägt. Die Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturkreisen erweitert den Horizont und man erkennt leichter, dass es keine absolut richtige Sicht auf die Welt gibt. Diese Vielfalt im Denken ist sowohl für das persönliche Wachstum als auch für die Innovation von entscheidender Bedeutung. Ohne den akademischen Austausch und die Möglichkeit, die Perspektive anderer Kulturen kennenzulernen, würden wir die Tiefe, die Kreativität, das Verständnis und das Staunen verlieren, die aus der Begegnung mit neuen Sichtweisen entstehen. Es sind ja gerade solche Erkenntnisse, die uns Menschen im Kern ausmachen. Meine Karriere, meine Freundschaften, mein heutiges Weltbild: all das wurde durch meine Auslandserfahrungen entscheidend geprägt.
Christina Iglhaut (8. Oktober 2024)