Langzeitdozentur in England: Bezüge herstellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Die Historikerin Prof. Dr. Katrin Steffen ist seit 2020 DAAD-Langzeitdozentin am Fachbereich Geschichte und dem Weidenfeld Institute of Jewish Studies der Universität Sussex.

Professorin Katrin Steffen hat als Erste den DAAD-Lehrstuhl für Europäische und Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Sussex inne. Die Historikerin legt in ihrer Forschung Wert auf eine europäische Perspektive und hat in England die Lehre für sich entdeckt.

Ein Blick in die Geschichtsbücher macht deutlich: Die Historie europäischer Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien ist nicht ohne die jeweils anderen Länder zu verstehen. Professorin Katrin Steffen, seit 2020 DAAD-Langzeitdozentin für Europäische und Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Sussex im englischen Brighton, zieht in ihrer Lehre und Forschung deshalb wichtige Verbindungslinien. Ihr Augenmerk gilt dabei insbesondere der jüdischen Geschichte, die seit zwei Jahrtausenden mit Europa verknüpft ist. „Obwohl viele Jüdinnen und Juden transnational gelebt haben, wird die jüdische Geschichte oft noch in nationalen Bezugsrahmen gedacht“, sagt sie. „Dabei gibt es zwischen Ost und West eine große gegenseitige Beeinflussung, Anziehung und zum Teil auch wechselseitige Vorstellungen, die zu Ablehnung führen konnten.“

Forschung zu den Opfern des Zweiten Weltkriegs

Das Interesse an Geschichte entwickelte Steffen bereits als Jugendliche. „Meine Mutter, die innerhalb unserer Familie das Schweigen über den Zweiten Weltkrieg brechen wollte, gab mir Jugendbücher über den Holocaust zum Lesen“, sagt sie. „Die Generation meiner Großeltern hat kaum über ihre Beteiligung am Krieg oder ihre Vertreibung aus Königsberg gesprochen.“ Steffen wollte mehr erfahren und studierte Osteuropäische und Neuere Geschichte sowie Slawistik an den Universitäten Gießen und Mainz, der Humboldt-Universität, der Technischen Universität Berlin und der Freien Universität Berlin. Anschließend promovierte sie zum Thema jüdischer Identitätsentwürfe in einem tendenziell antisemitischen Klima im Polen der Zwischenkriegszeit.

Von 1996 bis 1999 beteiligte sich Steffen an einer deutsch-polnischen Quellenedition zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und war von 2002 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Warschau tätig. „In Deutschland wurde damals in den Untersuchungen zum Nationalsozialismus sehr viel Täterforschung betrieben“, erläutert sie. „Ich habe mich mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs beschäftigt und damit eine wichtige Lücke geschlossen.“ Nach einer Gastprofessur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris habilitierte Steffen 2019 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Aufklärung und Bildung gegen Antisemitismus

Auf die DAAD-Langzeitdozentur am Fachbereich Geschichte und am Weidenfeld Institute of Jewish Studies, das an die Universität Sussex angegliedert ist, wurde Steffen durch Kolleginnen und Kollegen aufmerksam. „Erst war ich etwas skeptisch und konnte mir aufgrund des Brexits nicht vorstellen, in England zu arbeiten.“ Schließlich begeisterte sie sich doch für das akademische Profil der Hochschule. „Die Universität wurde erst in den 1960er-Jahren gegründet und ist interdisziplinär ausgerichtet. Den Studierenden werden zahlreiche, fächerübergreifende Angebote gemacht.“

Jung und interdisziplinär ausgerichtet: die Universität Sussex

Zudem deckt sich die Ausrichtung des Weidenfeld Institute mit ihrem eigenen Forschungsinteresse: Statt eines nationalen Ansatzes verfolgt es eine europäische Perspektive. Steffen bewarb sich erfolgreich auf die neu eingerichtete, DAAD-geförderte Stelle. „Ein Anliegen des Weidenfeld Institute ist es, durch Bildung und Aufklärung Antisemitismus zu verhindern“, erklärt sie. „Neben Forschung und Lehre nimmt das Wirken in eine breitere Öffentlichkeit deshalb einen großen Raum ein.“

Ein weiteres Plus der DAAD-Langzeitdozentur in Sussex: das Umfeld der Hochschule. „Brighton liegt direkt am Meer und ist ein beliebter Urlaubsort an der Südküste Englands mit wunderbaren Wandermöglichkeiten im umliegenden South-Downs-Nationalpark“, sagt Steffen. „Zudem leben hier sehr viele junge Leute – und die Engländerinnen und Engländer sind bemerkenswert freundlich und offen. Auch an der Universität bin ich sehr herzlich aufgenommen und integriert worden.“

Katrin Steffen bei einer Wanderung an der Kliffküste der Seven Sisters im südenglischen South-Downs-Nationalpark

Lehrmodul zum Thema Reparationen

Mittlerweile hat sie ihren ersten Studierendenjahrgang zum Abschluss geführt und dabei die Lehre schätzen gelernt: „In Deutschland lag mein Schwerpunkt auf der Forschung und dem Erstellen von Publikationen, unterrichtet habe ich zwar auch, aber längst nicht so viel wie in England.“ Nun gehöre die Arbeit mit den Studierenden zu ihrem Alltag. „Ich finde es ungeheuer lohnend und wichtig, ihnen etwas mit auf den Weg zu geben. Zudem bekommt man von den Studierenden viel zurück.“

Steffen leitet unter anderem Kurse zum Holocaust und zur Historie der Moderne. Zudem verbindet sie in Modulen zeitgenössische Ereignisse mit Prozessen in der Geschichte. „Ich möchte den Studierenden Bezüge vor Augen führen, beispielsweise zwischen Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungstheorien.“ Im letzten Jahr konzipierte sie ein Lehrmodul zum Thema Reparationen. „Das ist ein sehr aktuelles und globales Thema, das im Seminar auf großes Interesse gestoßen ist. Wir haben beispielsweise den Windrush-Skandal aus dem Jahr 2018 diskutiert, der zu Tage brachte, dass durch die Schuld von Behörden Tausende Menschen aus früheren Kolonien als illegale Einwandererinnen und Einwanderer betrachtet wurden, obwohl sie bereits seit über 50 Jahren in Großbritannien lebten.“

Erweiterung um osteuropäische Perspektive

Bei der Organisation internationaler Veranstaltungen an der Universität Sussex kann Steffen auf ihre vielfältigen Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in osteuropäischen Ländern zurückgreifen. „Im Juli 2023 haben wir wieder eine Summer School für Promovierende angeboten, bei der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Israel, den USA sowie aus ost- und westeuropäischen Ländern vertreten waren“, erzählt sie. Die Doktorandinnen und Doktoranden stellten ihre Arbeiten zu verschiedenen Phasen der jüdischen Geschichte vor und diskutierten ihre Thesen mit dem Plenum.

Die Verbindungen russischer Jüdinnen und Juden mit Berlin in der Weimarer Republik waren dabei ebenso Thema wie jüdisches Leben in Stettin, Estland und Lodz, queere Narrative aus der Zeit des Nationalsozialismus, Schulddiskurse in Österreich und das gegenwärtige Leben israelischer Künstlerinnen und Künstler in Berlin. „Das abwechslungsreiche Programm beinhaltete auch eine Führung durch das jüdische Brighton, einen Vortrag zu Israels Identitätskrise und die Möglichkeit, eine Verlagsspezialistin zu Publikationsstrategien zu befragen.“

Für Herbst 2023 ist ein Workshop zu Reparationen in Wien geplant. „Damit lösen wir das Thema aus dem deutsch-jüdischen Kontext heraus und integrieren osteuropäische Perspektiven“, erklärt sie. Zudem wird 2024 eine Ausstellung in Sussex zu sehen sein, die sich mit dem Schicksal polnischer Jüdinnen und Juden beschäftigt, die 1938 aus Deutschland ausgewiesen wurden und mehrere Monate an der deutsch-polnischen Grenze ausharren mussten. „Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit Vorurteile abzubauen, die zum Teil auch gegenüber Menschen aus Osteuropa existieren“, sagt Steffen. „Auch an dieser Stelle wünsche ich mir eine stärker integrative europäische Perspektive.“

Christina Pfänder (10. August 2023)

 

Verwandte Themen