Langzeitdozentur in Kirgisistan: Einsatz für Demokratie und Menschenrechte
Interdisziplinäres Arbeiten an den Schnittstellen der Politik- und Rechtswissenschaften sind Konstanten in der erfolgreichen Karriere von Professorin Anja Mihr. Seit 2018 arbeitet die Politologin nun als DAAD-Langzeitdozentin an der OSZE-Akademie in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek und hat dort ein vielbeachtetes Masterprogramm zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit aufgebaut.
Einmalige Alpenseen, ein faszinierendes Hochgebirge mit Schluchten und Pässen sowie seltene Tiere wie der Schneeleopard und das Marco-Polo-Schaf – Kirgisistan ist für seine raue, aber vielfältige Natur bekannt. Für Prof. Dr. Anja Mihr gab die einzigartige zentralasiatische Landschaft allerdings nicht den Ausschlag, ihren Arbeits- und Lebensschwerpunkt mit einer DAAD-Langzeitdozentur nach Kirgisistan zu verlagern. Entscheidend für den Umzug nach Bischkek war ihr herausragendes politisches Interesse. „Nach Stationen im Nahen Osten sowie in China, Europa, Lateinamerika und Afrika war Zentralasien damals der einzige weiße Fleck auf meiner persönlichen Landkarte“, erzählt Mihr. „Da ich mich schon seit meiner Promotion mit autokratischen Systemen beschäftige, war es mein Wunsch, in einem Land zu leben, in dem ich sehe, wie autoritäre Regime sich entwickeln und ihre Autokratie manifestieren. Insbesondere die Legitimität von Autokratien wollte ich besser verstehen.“
Zudem ist die OSZE-Akademie ein herausragendes Bildungsprojekt in der Region, das 2002 auf Initiative der postsowjetischen Regierungen in Zentralasien mit dem Leitgedanken gegründet wurde, die regionale Zusammenarbeit, Konfliktprävention und gute Regierungsführung mit Hochschulbildung und wissenschaftlichem Austausch zu fördern. Neben Norwegen und den USA gehört Deutschland zu den Hauptgeldgebern der Institution. „Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden einige Länder wie beispielsweise Tschechien, Estland, Lettland oder Litauen in den Europarat aufgenommen und mit europäischen Bildungsprogrammen wie Erasmus unterstützt“, erläutert Mihr. „Diese Staaten verfolgten konsequent Reformen und entwickelten sich zu Demokratien.“ Anders in Zentralasien: In Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Turkmenistan und Tadschikistan setzten sich die demokratischen Kräfte gegen Vertreter der alten sowjetischen Eliten nicht durch. „Eine Folge der politischen Situation dort war die Abwanderung junger Menschen“, sagt sie. „Die OSZE-Akademie soll als englischsprachiges Bildungsangebot in den Bereichen Politik und Sicherheit sowie Wirtschaft und Entwicklung dem Braindrain entgegenwirken und dabei eine junge Elite der Mittelschicht ansprechen.“
Mit Anja Mihr hat die OSZE-Akademie eine interdisziplinär arbeitende Expertin für Menschenrechte, politische Institutionen und Demokratieforschung gewinnen können. „Nach meiner Promotion zum Thema Menschenrechte in der DDR an der Freien Universität Berlin habe ich lange Jahre auch an juristischen Fakultäten gearbeitet“, sagt Mihr. „Daraus entwickelten sich in den letzten zwanzig Jahren meine beiden Standbeine, die ich in meiner Lehre und Forschung miteinander kombiniere: das internationale Völkerrecht und der Aufbau politischer Institutionen.“
Vor ihrer DAAD-Langzeitdozentur in Bischkek war die Politologin so beispielsweise am Global Campus für Menschenrechte und Demokratisierung in Venedig, an der Juristischen Fakultät der Peking University sowie am Niederländischen Institut für Menschenrechte (SIM) der Universität Utrecht tätig. Als DAAD-Gastprofessorin für Transitional Justice, Menschenrechte in internationalen Beziehungen und Recht verbrachte sie ein Jahr an der Hebräischen Universität Jerusalem; zudem gründete sie 2015 in Berlin das Center on Governance through Human Rights und die Berlin Governance Plattform. Das Online-Portal setzt sich mit einem multidisziplinären Team für die sozial-ökologische Transformation ein und bringt Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen sowie Politik und Wissenschaft zusammen.
Seit 2018 ist Anja Mihr nun als Professorin für Menschenrechte, Demokratisierung, Internationale Beziehungen und Transitional Justice in Bischkek tätig. Zu ihren Aufgaben gehört zum einen die Ausbildung der Studierenden. „Ich unterrichte dort klassische System- und Transitionstheorien, also demokratietheoretische Konzepte, und internationales Völkerrecht. Diese Kombination ist in Zentralasien einmalig.“ Die Studierenden stammen hauptsächlich aus allen fünf zentralasiatischen Ländern und der Mongolei; bis zur Machtergreifung der Taliban gehörten auch Afghaninnen und Afghanen zu den Absolventinnen und Absolventen. Zudem hat Anja Mihr gemeinsam mit dem Global Campus for Human Rights ein Masterprogramm zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit (Master in Human Rights and Sustainability, MAHRS) auf die Beine gestellt, das am 1. September 2023 startet.
Finanziell unterstützt wird der Studiengang von der Europäischen Union. „Das Programm ist auf die regionalen Besonderheiten in Zentralasien zugeschnitten“, erläutert Mihr. Als Transitland, in dem die neue chinesische Seidenstraße beginne, sei beispielsweise die grüne Transformation von Lieferketten ein bedeutendes Thema. Insgesamt verfolge die OSZE-Akademie damit das Ziel, junge Menschen zu Verfechtern von Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, nachhaltiger Entwicklung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auszubilden. Der Erfolg des Programms ist ein wichtiges Anliegen für Anja Mihr: „Meine Professur an der OSZE-Akademie endet zwar im August 2023, den Masterstudiengang werde ich jedoch über meine Amtszeit hinaus weiter als Programmdirektorin betreuen.“
Anja Mihrs Einsatz für Demokratie und Menschenrechte findet Beachtung: Anlässlich eines Staatsbesuchs in Kirgisistan Ende Juni 2023 würdigte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier die Arbeit der OSZE-Akademie und informierte sich in einem persönlichen Gespräch mit Mihr über aktuelle Projekte und Herausforderungen der Hochschule. Zudem diskutierten Studierende aus den zentralasiatischen Ländern mit ihm im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine über die Folgen der sicherheits- und wirtschaftspolitischen Veränderungen. Im Mittelpunkt der Debatte stand unter anderem die Frage, inwiefern die soziale Mobilität und die beruflichen Aussichten von jungen Absolventinnen und Absolventen von der zunehmenden Autokratisierung im postsowjetischen zentralasiatischen Raum beeinflusst werden.
„Das Thema ist von besonderem Interesse für Studierende und Thema in den von mir unterrichteten Fächern, nicht nur an der Akademie“, sagt Mihr. „Im Zuge der Autokratisierung der politischen Systeme in der Region hängt die berufliche und familiäre Lebensplanung immer weniger von individueller Leistung, sondern vielmehr von persönlichen Beziehungen und Netzwerken sowie politischer Loyalität ab.“ Umso wichtiger sei es für deutsche und europäische Institutionen, gegen diesen Trend vorzugehen – beispielsweise mit zusätzlichen Lang- und Kurzzeitdozenturen sowie Studienstipendien in Zentralasien. „Ich sehe sonst die Gefahr, dass eine ganze Region, die aus geopolitischer und wirtschaftlicher Sicht als Bindeglied zwischen China und Europa immer wichtiger für Deutschland wird, für einige Generationen verloren geht.“
Christina Pfänder (22. Juni 2023)