Polen: Erfahrungsberichte von Menschen vor Ort

Man sieht das Meer vor Danzig.

Schilderungen von Stipendiaten und Mitarbeitern, die für einige Zeit vor Ort leben, studieren und arbeiten, vermitteln einen lebhaften Einblick in das Land.

„Breslau ist jung und dynamisch, für Studierende perfekt“

Marij Duhra hat ihr Masterstudium der Diplomatie als DAAD-Stipendiatin an der Uni Breslau verbracht. Polen, das Land der Gegensätze, ist für alle Sinne interessant. Nach diesen Zeilen könnt ihr das Land sehen, hören und schmecken ...

Von: Marij Duhra

Stand: 15.08.2016 |

Gesellschaftlich ist Polen geprägt von starken Kontrasten. Die Fronten verlaufen zwischen den Generationen, zwischen dem städtischen und dem ländlichen Raum und wie auch oft behauptet wird, zwischen West- und Ostpolen, dem Polen A und dem Polen B. Die Auseinandersetzung mit diesen Disparitäten und gesellschaftlichen Diskursen sowie deren Dynamiken, hat mich persönlich stark bereichert. Polen ist lange nicht so homogen, wie es auf den ersten Blick aussieht. Breslau (polnisch Wrocław)  beispielsweise ist sehr jung und dynamisch, aus studentischer Perspektive eigentlich perfekt. Was auch immer gebraucht wird, alles ist hier: Kultur, Sport, Gastronomie, Architektur, gute Hochschullehrende sowie schöne Räume und Flächen der Universität Breslau (polnisch Uniwersytet Wrocławski).

… „sehen“ und spielerisch Polnisch lernen

„Bauer such Frau“ auf Polnisch: Die Fernsehserie „Rolnik szuka żony“ stellt Land und Leute vor.

Um einen Eindruck von der polnischen Lebenswelt zu bekommen, empfehle ich die polnische Version von „Bauer sucht Frau“ (Rolnik szuka żony). Selbst wenn keine Sprachkenntnisse vorhanden sind, lassen sich beim Ansehen dieser Fernsehserie so manche Eindrücke mitnehmen. Die Protagonist*innen lassen das Fernsehteam sehr nah an sich heran, gewähren Einblicke in ihren privaten Lebensraum, reden über ihre Sehnsüchte und stellen ihre Familie vor. Da es im realen Leben oft länger dauert, solch ein Vertrauen und solch eine Nähe aufzubauen, ist Rolnik szuka żony ein interessantes Format, um sich Land und Leute bereits aus der Ferne anzuschauen. Hier werden Ausgestaltungen des privaten Wohnraumes ebenso vorgestellt wie die Selbstverständlichkeit der traditionellen Rollenverständnisse der Geschlechter. Die Verwandtschaft der zu verkuppelnden Pani Liliana preist diese mit den Attributen „intelligent, artig, familiär“ an.

Die vorgefundene Ästhetik im ländlichen Raum deckt sich mit den Erfahrungen, die ich vor Ort sammeln konnte. Kleidungsstile, Frisuren und die vielen kräftigen Farben, aber auch die traditionellen Speisen, die hier oft auf den Tisch gestellt werden… Das alles bildet den Kontrast zum Leben in den größeren Städten. Ein Bild vom „richtigen“ Papst - ja, es ist der aus Polen - in der Vitrine sowie selbstgemachter Likör werden im ländlichen Raum wohl in den allermeisten Haushalten vorzufinden sein.  

Meiner Einschätzung nach geht es dem Produktionsteam nicht darum, einzelne Protagonist*innen vorzuführen, im Gegenteil, ich halte das Format für ehrlich bemüht, alle in einem ehrlichen und freundlichen Licht erscheinen zu lassen. Dabei sind gerade die Polen auf dem Land finanziell und strukturell allzu oft abgehängt und es gäbe gute Gründe, sich weniger fröhlich zu präsentieren.

… „hören“ und die Gegensätze Polens erfahren

Die Altstadt von Breslau: Die Stadt an der Oder wurde auf zwölf Inseln gebaut und durch über hundert Brücken verbunden.

Auch akustisch kann man sich auf Breslau ebenso gut aus der Ferne vorbereiten. Auf der Seite www.dzwiekowamapa.pl sind Aufnahmen zu finden, welche zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten der Stadt mitgeschnitten worden sind, räumlich zugeordnet. Neben Torjubel aus dem Polen-Portugal-Spiel der EM 2016, lässt sich hier zum Beispiel in eine Demonstration zum Frauentag reinhören, es gibt ein barockes Orgelkonzert, einen Beatboxer oder den Fanclub der „Verstoßenen Soldaten“ – patriotische Jungs, die „Gott, Ehre, Vaterland“ und die „Nationalen Streitkräfte, (NSZ)“ besingen. Sie haben eine Vielzahl von Feindbildern, darunter sind Kommunisten, Muslime, und Vieles, was oft mit dem Begriff „multikulti“ zusammengefasst wird. Was einen guten, wertetreuen Polen ausmacht, ist auch ein Thema für den Außenminister Witold Waszczykowski. So wettert er gegen das Fahrradfahren, Vegetarier und gegen erneuerbare Energien. Das ist ihm alles zu links und zu weit weg von polnischer Tradition. Politische Kultur, die spaltet. Ich bin in Wrocław nur mit dem Rad unterwegs und halte es für das schnellste und bequemste Verkehrsmittel. Über die Infrastruktur der Radwege kann ich mich nicht beschweren und außerdem ist die Radfahrerästhetik und die Szenen, die sich drum herum gebildet haben ein umfangreiches Thema für Publikationen und mehr. Überhaupt gibt es in der Stadt viele alternative Strömungen: Auf politischer Ebene wirkt zum Beispiel die lokale „critical mass“, auf kultureller Ebene das Filmfestival „Bike Days“ und auf der Spaß-Ebene der Zusammenschluss aus Fahrradfreunden „Tragedia Breslau“ – leises Fahrzeug, lautes Drumherum.

Breslau „schmecken“

Wahrscheinlich noch weiter weg von polnischen Traditionen ist die hohe Beliebtheit der vegetarischen Küche. In keiner anderen polnischen Stadt gibt es so ein so dichtes Netz an diversen vegetarischen, aber auch veganen Angeboten.

Der Altmarkt „Rynek“ im Herzen Breslaus

Das älteste vegetarische Restaurant Polens befindet sich in der Mitte Wrocławs – am „Rynek“, dem Altmarkt. Bereits 1987 wurden hier ausschließlich fleischlose Gerichte angeboten. Die Gäste gehören den verschiedensten Altersgruppen an, mal stark tätowiert, mal mehr oder weniger kritisch in Tierhaltungsfragen. Doch es bleibt festzuhalten: Dieser Trend zum kompletten Verzicht auf tierische Produkte hat die breite Masse in Polen noch lange nicht erreicht. Vor allem Rind- und Schweinefleisch ist in polnischen Nationalgerichten, wie dem Schmoreintopf „Bigos“, ein Muss. Im Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch hatte Polen jahrelang eine weltweite Spitzenposition inne. Somit nimmt Breslau mit seinen vielen vegetarischen Restaurants gewissermaßen eine alternative Vorreiterrolle ein.

Wer sich vom „Disneyland Breslaus“, dem Altmarkt, etwas erholen möchte und vom Schlendern durch die vielen Marktstände Hunger bekommen hat, dem empfehle ich das Powoli im Stadtteil Nadodrze. Außer dem Institut für Physik gibt es in Nadodrze keine Universitätsgebäude oder Wohnheime, deshalb eignet sich dieser Stadtteil, um Abstand zu anderen Erasmus-Studenten zu finden, falls es nötig sein sollte;) Im Powoli habe ich das Küchenteam nicht selten bei der Arbeit singen gehört und fühlte mich dort ausnahmslos wohl. Auch dieser Ort mit all seinen Qualitäten ist ein Grund dafür, dass ich mich generell in Wrocław wohl fühle.

Das stattliche Hauptgebäude der Uni Breslau liegt direkt an der Oder.

Wrocław hat für den Aufenthalt von einem Semester eine sehr angenehme Größe. Auch wenn es gute „tools“ gibt, um sich von Deutschland aus auf Wrocław und Polen im Allgemeinen einzustimmen, ist es natürlich etwas ganz anders vor Ort zu sein, seine Kommilitonen, Nachbarn, Kneipenbekanntschaften zu fragen, wie sie das Mediengesetz, den Arbeitsmarkt oder das Ringen um Abtreibungsrechte einschätzen. Deshalb möchte ich jede*n da draußen ermutigen, die Gelegenheit eines Auslandssemesters zu ergreifen, sich selbst ein Bild zu machen, Geräusche zu hören und Dies und Das zu kosten.

Blogs

Drei Frauen mit Rucksäcken von hinten