„Die Wissenschaft ist eine der stärksten Seiten deutsch-israelischer Beziehungen“

Der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert (l.), und DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee trafen sich zum Gespräch in Jerusalem.

50 Jahre Theologisches Studienjahr in Jerusalem – 50 Jahre interreligiöse Verständigung. Seit 1973 bietet das vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts geförderte Programm Theologiestudierenden aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz die Möglichkeit, sich zwei Semester lang intensiv mit Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften auszutauschen. Am Rande der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen trafen sich DAAD-Präsident Professor Joybrato Mukherjee und der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, zum Gespräch.

Lieber Herr Seibert, lieber Herr Mukherjee, wir treffen uns in der Dormitio-Abtei in Jerusalem, um das 50-jährige Bestehen des Theologischen Studienjahrs Jerusalem zu feiern. Wie blicken Sie beide auf die Entwicklung des Programms und die heutigen israelisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen?

Steffen Seibert: Die Wissenschaft war nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah schneller als Politik und Diplomatie: Die Wiederbelebung der Beziehungen zwischen dem Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel und der Max-Planck-Gesellschaft in Deutschland war 1964 ein mutiger Neuanfang und ein Schritt zur Versöhnung. Aktuell sind mehr als 5.000 deutsch-israelische Wissenschaftsprojekte aktiv, das sind Zehntausende Menschen, die die Beziehungen auf beiden Seiten stärken. Das ist im Moment besonders bedeutsam, weil mir israelische Forschende erzählen, dass sie seit dem 7. Oktober 2023 im internationalen Wissenschaftsbetrieb Ausgrenzung erfahren. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, uns daran zu erinnern, dass die Israelis uns einmal die Hand gereicht haben und wir daher jeden Grund haben, diese Wissenschaftsbeziehungen so stark wie möglich zu halten.

Steffen Seibert, deutscher Botschafter in Israel „Wir haben jeden Grund, diese Wissenschaftsbeziehungen so stark wie möglich zu halten.“
Steffen Seibert, deutscher Botschafter in Israel

Joybrato Mukherjee: Wir haben mehr als 450 institutionelle Kooperationen zwischen deutschen und israelischen Hochschulen, eine hohe Mobilität von Studierenden und Forschenden, gemeinsame Sonderforschungsbereiche, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden, und weitere herausragende gemeinsame Forschungsprojekte. Gerade jetzt ist es wichtig, darüber nachzudenken, wie wir die gewachsenen, intensiven Beziehungen erhalten und weiterentwickeln können. Es herrscht große Unsicherheit in Israel und davon ist auch die Wissenschaft betroffen. Wir müssen unseren israelischen Partnerinnen und Partnern daher unter den veränderten Bedingungen gerade jetzt Sicherheit und Beständigkeit in der internationalen Kooperation signalisieren.

Das Studienjahr ermöglicht Theologiestudierenden einen knapp einjährigen Aufenthalt auf dem Zionsberg in Jerusalem. Worin liegt die Bedeutung des Programms – und passt es aus Ihrer Sicht noch in die heutige Zeit?

Joybrato Mukherjee: Das Jubiläum war der ursprüngliche Anlass meiner Reise, auch schon vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Das Programm ist seit fünf Jahrzehnten ein Hoffnungszeichen, gerade in herausfordernden Zeiten. Seit 50 Jahren kommen evangelische und katholische Studierende für knapp ein Jahr nach Jerusalem, um theologische Forschung und Bibeltextexegese gemeinsam mit jüdischen, muslimischen und christlichen Expertinnen und Experten zu betreiben. Dieser zutiefst ökumenische und interreligiöse Ansatz ist besonders in Zeiten von Krieg und Krisen ein wichtiges Signal der Zusammenarbeit.

Steffen Seibert: Die Bedeutung hängt auch mit dem Ort des Studienjahres zusammen: Der Zionsberg in Jerusalem symbolisiert wie kein anderer interreligiösen Respekt und steht für Zusammensein und Zusammenarbeiten – und zugleich für die Gefährdungen, die dieses respektvolle Miteinander der Religionen immer wieder erfährt. Es ist daher der richtige Ort, um beispielsweise mit der Hebräischen Universität Jerusalem genauso wie mit palästinensischen Hochschulen zusammenzuarbeiten – das ist immens wichtig. Die Studierenden des Studienjahres lernen hier die Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts kennen und erleben zugleich ein einzigartiges Zusammenleben, das an anderen Orten selten geworden ist. Ich höre, dass das an diesem besonderen Ort ein beglückendes Erlebnis sein kann und dass jeder und jede ein wenig verändert nach Deutschland zurückkehrt.

Prof. Dr. Joybrato Mukherjee„Wir müssen unseren israelischen Partnerinnen und Partnern Sicherheit und Beständigkeit in der internationalen Kooperation signalisieren.“
Prof. Dr. Joybrato Mukherjee

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober wird im Gazastreifen gekämpft, die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen leidet unter den Angriffen, die Lage in der gesamten Region ist sehr angespannt. Was kann ein Programm wie das Theologische Studienjahr, was kann die Wissenschaft insgesamt zur Verbesserung der Situation beitragen?

Joybrato Mukherjee: Wir stehen als DAAD für eine klare Solidarität mit dem Staat und den Menschen in Israel. Meine aktuellen Besuche bei unseren israelischen Hochschulpartnern sind auch Zeichen dieser Solidarität. Genauso gilt, dass wir uns die Empathie für die Opfer in der palästinensischen Zivilbevölkerung bewahren müssen. Wir hatten vor zwei Wochen in Bonn ein Treffen mit palästinensischen DAAD-Geförderten. Es war ein sehr berührendes Gespräch, einige Geförderte haben Familie im Gazastreifen.

Mit Blick auf die Wissenschaft sollten wir uns derzeit fragen: Welche Möglichkeiten akademischer Bildung gibt es in den Palästinensischen Gebieten und wo können wir über Hochschulkooperationen oder Stipendien Bildungschancen für junge Menschen schaffen? Wir müssen über verschiedene Formate nachdenken, die jungen Menschen eine akademische Perspektive eröffnen. Beide Punkte stelle ich bewusst nebeneinander: Es gilt die Solidarität mit Israel und der Ausbau der gewachsenen Partnerschaft und gleichzeitig müssen wir in Deutschland mit palästinensischen Hochschulen akademische Bildungschancen und damit Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage für junge Menschen vor Ort schaffen.

Steffen Seibert: Akademische Bildung hat ja auch immer menschliche Bildung als Ziel. Dies bedeutet, dass Studierende des Theologischen Studienjahres lernen, mit der Komplexität umzugehen, das Gespräch zu suchen, zuzuhören und eben auch, sich für einen Moment in die Position des anderen zu versetzen. Das ist vielleicht das Allerwichtigste: dass Empathie und die Fähigkeit zur Empathie wachsen. Dafür braucht es Kontakte, dafür braucht es das Gespräch zwischen Israelis und Palästinenserinnen und Palästinensern. Im besten Fall kann man das hier lernen. Beide Seiten tun sich schwer damit, sich die Geschichten und die Leidenserfahrungen der anderen Seite anzuhören, ohne gleich in eine ideologische Angriffsstellung zu gehen.

Steffen Seibert (l.), deutscher Botschafter in Israel, und DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee tauschten sich in Jerusalem über die deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen aus.

Was wünschen Sie sich, dass die Studierenden des Theologischen Studienjahres nach knapp einem Jahr vor Ort zurück mit nach Deutschland nehmen?

Steffen Seibert: Zuerst wünsche ich mir, dass sie mitnehmen, welch wunderbares Land Israel in seinem diversen Reichtum ist. Es ist ein jüdisches Land und zugleich ein Land, in dem etwa ein Fünftel der Bevölkerung arabisch ist, rund 21 Prozent. Ich hoffe, dass sie ein Gefühl dafür entwickeln, dass sich viele Probleme auf der Welt, ganz besonders dieser Konflikt hier, nicht für holzschnittartige Betrachtungen eignen, sondern dass man ein Gefühl für Ambivalenz und Komplexität entwickeln muss. Wer hier ein Jahr lang lebt, wird schnell erkennen, wie wenig differenziert manches Urteil und manche Meinungsäußerung über Israelis und Palästinenser sind, die man aus weit entfernten Ländern hört.

Joybrato Mukherjee: Die Studierenden sollen gestärkt im Perspektivwechsel und in der Differenzierung zurückkehren. Der Konflikt hier ist komplex und vielschichtig, einfache Rezepte und Lösungen gibt es nicht. Zugleich bietet das Studienjahr die Erkenntnis: Es wird nur eine gedeihliche Perspektive für alle Menschen in diesem kleinen Land geben, wenn man miteinander zusammenarbeitet und einen Weg zu einer friedlichen Zukunft findet. Hier kann das Zusammenwirken aller Beteiligten im Programm einen großen Beitrag leisten. Ich hoffe, etwas pathetisch formuliert, dass sich die Alumnae und Alumni des Studienjahres bei ihrer Rückkehr dann ein wenig auch als „Science Diplomats“ in dieser Sache fühlen.

Steffen Seibert: Ich hoffe, dass die Studierenden mit der persönlichen Überzeugung nach Deutschland zurückkehren, dass wir als Deutsche eine besondere Verantwortung sowohl für die Sicherheit Israels als auch für das Ringen um Frieden tragen. Ich wünsche mir, dass sie diese Verantwortung nicht als Belastung, sondern als Chance sehen, die wir gemeinsam nutzen sollten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Michael Flacke, DAAD (25. April 2024)

 

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