„Theologie für das 21. Jahrhundert“

Feierten in Jerusalem 50 Jahre Theologisches Studienjahr (v. l.): DAAD-Präsident Professor Joybrato Mukherjee, die ehemalige Bundesbildungsministerin und Vorsitzende des Beirats des DAAD für das Theologische Studienjahr Professorin Annette Schavan, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Stephan Harbarth, Studiendekanin Professorin Johanna Erzberger und Abt Dr. Nikodemus Schnabel OSB.

Bereits seit 50 Jahren besteht das vom DAAD geförderte Theologische Studienjahr Jerusalem an der Theologischen Fakultät der Abtei Dormitio. Das Jubiläum wurde nun in Zeiten großer Sorge um die Lage in Nahost gefeiert – mit einem vielfältigen Festprogramm und prominenten Gästen. Professorin Johanna Erzberger, Dekanin des Theologischen Studienjahrs, und Dormitio-Abt Nikodemus Schnabel sprechen im Interview über Vernetzung in Wissenschaft und Gesellschaft, politischen Dialog und die Vermittlung zwischen Konfliktparteien.

Frau Professorin Erzberger, Abt Nikodemus, was hat Sie beide zum Theologischen Studienjahr geführt?

Professorin Erzberger: Wie die meisten meiner Vorgänger im Dekansamt des Theologischen Studienjahrs gehöre ich zum Kreis der ehemaligen Studierenden. 1999/2000 habe ich das Theologische Studienjahr absolviert. Ich wäre nicht, wo ich heute bin, wenn ich damals nicht die Wissenschaft für mich entdeckt hätte, insbesondere mein Fachgebiet, das Alte Testament. Über den Ehemaligenverein Forum Theologisches Studienjahr Jerusalem, der das Studienjahr begleitet und unterstützt, bin ich in den Jahren bis zu meiner Berufung als Dekanin mit dem Studienprogramm und Israel in Kontakt geblieben. Als die Dekansstelle 2019 neu besetzt werden sollte, haben mich gleich mehrere Freunde und Bekannte direkt darauf aufmerksam gemacht.

Abt Nikodemus: Wie bei Johanna wurde auch mein Lebensweg stark durch das Theologische Studienjahr beeinflusst. Ohne diese Erfahrung wäre ich heute nicht Mönch und Abt. Bevor ich im Studienjahr 2000/2001 nach Jerusalem kam, war ich noch nie im Heiligen Land gewesen. Während viele durch die Beschäftigung mit der Bibel oder von archäologischen Fragen angezogen werden, hat bei mir das Interesse an der Ökumene die Hauptrolle gespielt, insbesondere die Beschäftigung mit den Ostkirchen, mit koptischem, syrischem, äthiopischem oder armenischem Christentum. Die Zeit mit dem Theologischen Studienjahr hat mich dann umfassend geprägt. Es stimmt, was ein arabisches Sprichwort sagt: Ein Jahr in Jerusalem ist wie zwei Jahre woanders. Das gilt auch für die Intensität der Ökumene, für den interreligiösen Dialog – und für schwierige Fragen zwischen Politik und Religion. 

An der Jerusalemer Dormitio-Abtei leben und lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Theologischen Studienjahrs.

Was bedeutet Ihnen die Feier des 50-jährigen Jubiläums des Theologischen Studienjahrs?

Professorin Erzberger: Nach den Terror-Angriffen der Hamas am 7. Oktober und angesichts der eskalierenden Gewalt ist es für uns natürlich nicht selbstverständlich, dass wir das Jubiläum in Jerusalem feiern konnten. Ausschlaggebend für die Entscheidung, mit den Feierlichkeiten nicht nach Deutschland auszuweichen, waren Rückmeldungen von israelischer wie von palästinensischer Seite. Dass wir nach dem 7. Oktober das Studienjahr nicht abgebrochen haben, wurde von beiden Seiten als Zeichen der Solidarität verstanden. Es gibt eine Dankbarkeit dafür, dass wir noch da sind. Das Jubiläum bietet eine gute Gelegenheit, das Theologische Studienjahr noch stärker vor Ort zu verankern. Denn selbstverständlich knüpfen wir nicht nur wissenschaftliche Netzwerke mit Deutschland, sondern auch in der Region vor Ort – und das betrifft vielfältige Fachgebiete, zum Beispiel auch die Archäologie oder die Jewish Studies. 

Abt Nikodemus: Es freut uns sehr, dass es das Theologische Studienjahr nun schon so lange gibt – und dass es sich immer wieder neu erfinden konnte. Es gibt Elemente, die von Anfang an zum Studienjahr gehören, etwa die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel oder mit der Ökumene. Und zugleich ist das Studienangebot immer wieder erweitert worden, zum Beispiel um die Muslimisch-Christlichen Werkwochen, in denen der interreligiöse Dialog durch gemeinsame Lehrveranstaltungen muslimischer und christlicher Theologinnen und Theologen gefördert wird. Viele der Fragen, die uns beschäftigen, sind heute aktueller denn je.

Woran machen Sie das fest?

Abt Nikodemus: Grundsätzlich ist das Theologische Studienjahr ein Ort, an dem auch politisch-religiöse Fragen diskutiert werden, etwa die Probleme des Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit. Und allen, die Fanatismus und die mit ihm verbundenen Gefahren besser verstehen wollen, können wir sagen: Herzlich willkommen – damit beschäftigen wir uns schon seit Jahrzehnten! Wir machen Geschmack auf Komplexität: Wenn man über die vielschichtigen Beziehungen zwischen Christentum, Islam und Judentum spricht, geht das immer nur in einer Gesamtschau, die unterschiedlichsten Aspekten gerecht wird. Wir zeigen auch, wie vielstimmig Israel und Palästina sind, und stehen für eine gesellschaftsrelevante Theologie des 21. Jahrhunderts.

Was macht diese Theologie aus?

Professorin Erzberger: Ein zentraler Punkt ist, dass unsere Studierenden nicht nur miteinander, sondern insbesondere voneinander lernen. Sie bilden während des Studienjahrs eine Lebens- und Lerngemeinschaft im Studienhaus Beit Josef am Rande der Jerusalemer Altstadt. Fragen des ökumenischen Dialogs sind seit der Gründung des Theologischen Studienjahrs wichtig für das Programm, aber der Austausch der Studierenden geht längst darüber hinaus, etwa wenn sie über die Rolle der Frau in der Kirche oder über Homosexualität diskutieren. Während des Theologischen Studienjahrs wird in jeder Hinsicht, auch durch die Auswahl der Dozierenden, vermieden, dass unsere Studierenden in irgendwelchen Blasen lernen und forschen. Die Vielfalt der gesellschaftlichen und religiösen Perspektiven bringen sie später im Berufsleben auf ganz unterschiedliche Weise ein, als Pfarrerinnen und Pfarrer, als Forschende, im Bildungswesen oder auch als Medienschaffende.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung des Theologischen Studienjahrs Jerusalem?

Abt Nikodemus: Gerade in Zeiten eskalierender Konflikte braucht es Persönlichkeiten mit der von uns beschriebenen Perspektivenvielfalt. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir noch viele Jahrgänge begrüßen und Jubiläen feiern können. Und dass unsere Absolventinnen und Absolventen noch stärker in den Dialog mit nicht glaubenden Menschen kommen, denn das wird weiterhin an Bedeutung gewinnen. 

Professorin Erzberger: Ich wünsche mir, dass wir unsere Vernetzung in der Region weiter ausbauen, auch wenn das angesichts der aktuellen Lage in Israel und Palästina sicherlich nicht einfacher geworden ist. Vielleicht nie zuvor war die Gefahr der Sprachlosigkeit zwischen den Konfliktgruppen so groß wie aktuell. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal des Theologischen Studienjahrs Jerusalem, dass es Kontakte in alle Richtungen pflegt. Das wollen wir weiter vorantreiben.

Interview: Johannes Göbel (23. April 2024)


 

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