„Unser Bild von Indien muss differenzierter werden“

DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee in Neu-Delhi im Gespräch mit Georg Enzweiler, stellvertretender deutscher Botschafter in Indien

Deutschland und Indien verbindet eine lange Partnerschaft, 2024 feiern die Länder 50 Jahre wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit. Georg Enzweiler, stellvertretender deutscher Botschafter in Indien, und Professor Joybrato Mukherjee, Präsident des DAAD, trafen sich in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, um über zukünftige deutsch-indische Kooperationen zu sprechen und Möglichkeiten auszuloten, Indien noch attraktiver für deutsche Studierende und Forschende zu machen.

Lieber Herr Enzweiler, lieber Herr Professor Mukherjee, wie schauen Sie beide auf die heutigen indisch-deutschen Beziehungen in der Wissenschaft?

Georg Enzweiler: Indien wird für uns als Partner immer wichtiger. Der deutsche Bundeskanzler war letztes Jahr zweimal im Land. Es gibt strategische Elemente wie das „Green and Sustainable Development Partnership“, in dem Deutschland und Indien gemeinsam ehrgeizige Ziele im Kampf gegen den Klimawandel verfolgen. Diese Zusammenarbeit hat auch eine wissenschaftliche Komponente: Wir müssen die Auswirkungen des Klimawandels auf den Subkontinent besser verstehen. Außerdem arbeiten wir mit indischen Partnern beispielsweise an der Entwicklung nachhaltiger Technologien wie emissionsarmen Hybridmotoren. Wir sind also vor Ort gut aufgestellt. Wir sollten aber noch aktiver werden, um den indischen Aufwärtstrend besser zu begleiten.

Joybrato Mukherjee: Die indisch-deutschen Wissenschaftskooperationen und der akademische Austausch haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Indische Studierende stellen mittlerweile die größte Gruppe internationaler Studierender in Deutschland. Es gibt über 450 Kooperationsabkommen zwischen deutschen Hochschulen und indischen Einrichtungen. Deutschland gehört zu den „Top Five“ der beliebtesten Zielländer indischer Studierender und Promovierender. Wir haben also in den letzten 50 Jahren eine sehr gute Basis geschaffen. Indien und Deutschland sind auch aufgrund ihres gemeinsamen Verständnisses von guter Wissenschaft, ihrer demokratischen Verfassung und der aktuellen globalen Umbrüche natürliche Partner in der akademisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Jetzt gilt es, auf dieser Grundlage weiter voranzuschreiten und die Kooperationen auszubauen.

Deutschland und Indien sind natürliche Partner in der akademisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit.
Prof. Dr. Joybrato Mukherjee

Indien hat sich in den vergangenen Jahren als Start-up-Nation etabliert und investiert massiv in Hochschulen, Forschung und Innovation. Was erwarten Sie sich von dieser Entwicklung und welche zukünftigen Chancen ergeben sich für Deutschland? 

Joybrato Mukherjee: Indien hat sich zu einer führenden Wissenschaftsnation entwickelt. Vor kurzem landete eine indische Sonde auf dem Mond, das haben bislang erst die Sowjetunion, USA und China geschafft. In der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist das Land ein wichtiger und kompetenter Partner für Deutschland. Es gibt starke Forschungsgruppen in verschiedenen Bereichen, die für zukünftige Herausforderungen von großer Bedeutung sind – etwa in der Nachhaltigkeitsforschung, der Biotechnologie, den Materialwissenschaften und der Künstlichen Intelligenz. KI wird in Zukunft viele Bereiche des Lebens prägen und es ist wichtig, dass wir weltweit Partner finden, um ein verbindliches und demokratisch abgestimmtes Regelwerk für diese Technologie zu entwickeln. Indien ist ein solcher Partner. Auch von der boomenden Start-up-Szene des Landes können wir in Deutschland einiges lernen. Es gibt daher konkrete Überlegungen, die Zusammenarbeit zwischen den Start-up-Ökosystemen beider Länder zu intensivieren.

Georg Enzweiler: Da kann ich Professor Mukherjee nur zustimmen. In Indien herrscht Aufbruchstimmung, auch in der Wissenschaft. Indische Universitäten gründen Niederlassungen im Ausland, umgekehrt sollen internationale Universitäten Zweigstellen in Indien eröffnen. Indien hat beachtliche Erfolge in verschiedenen Fachgebieten erzielt. Indische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind international gut vernetzt, sie bringen ihre Kontakte und Expertise oft zurück ins Land. Mit seinen 1,4 Milliarden Menschen und seiner dynamischen Wirtschaft wird der Subkontinent in den kommenden Jahren den Klimawandel und weltpolitischer Entwicklungen maßgeblich beeinflussen. Die deutsche Wissenschaft und unser Innovationsökosystem genießen in Indien hohes Ansehen. Deshalb gilt: Je enger wir uns mit dem Land vernetzen, desto besser für unsere Positionen und Technologien.

Die deutsche Wissenschaft und unser Innovationsökosystem genießen in Indien hohes Ansehen.
Georg Enzweiler

Indische Studierende stellen mittlerweile die größte Gruppe internationaler Studierender in Deutschland, den Weg von Deutschland nach Indien finden bislang aber eher wenige Studierende oder Promovierende. Was könnte aus Ihrer Sicht getan werden, um Indien als Studien- und Forschungsstandort für deutsche Studierende und Forschende attraktiver zu machen?

Joybrato Mukherjee: Wir sollten gemeinsame Forschungsprojekte und wissenschaftliche Kooperationen intensivieren und damit den Austausch fördern. In Deutschland müssen wir uns stärker bewusst machen, wie vielfältig und dynamisch Indien ist und wie schnell die Entwicklung hier voranschreitet. Wir sollten daher das Interesse der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft an Indien insgesamt fördern. Die indischen Alumnae und Alumni, die bereits Erfahrungen in Deutschland gesammelt haben, können als Botschafterinnen und Botschafter des Austauschs zwischen Indien und Deutschland dienen und die Mobilität von Deutschland nach Indien verstärken. Wir im DAAD sehen es als unsere Aufgabe an, durch Konferenzen, weitere Veranstaltungen und gutes Marketing das Interesse an Indien und einem Aufenthalt im Land zu fördern. 

Georg Enzweiler: Indische Studierende haben in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag zur deutschen Hochschullandschaft geleistet. Neben dem Studium lernen sie auch die deutsche Gesellschaft, Kultur und Politik kennen. Man ist hier in Indien also grundsätzlich gut informiert über Deutschland. Dasselbe kann man von Deutschland in Bezug auf Indien leider nicht sagen. Unser Bild von Indien muss differenzierter werden. Es gibt hier innovative Start-ups mit spannenden Geschäftsideen, hochkompetente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und erstklassige Colleges. Das muss sich noch stärker in den Köpfen der Menschen in Deutschland verankern. Stipendienprogramme und institutionelle Partnerschaften sind dafür wichtige Voraussetzungen. Aber es müssen auch persönliche Geschichten erzählt werden, um junge deutsche Studierende für dieses faszinierende Land zu begeistern.

Georg Enzweiler und Joybrato Mukherjee waren sich einig: Indien hat sich in den letzten Jahren zu einer führenden Wissenschaftsnation entwickelt.

Wenn Sie an Indiens unglaublich vielfältige Kultur(en) und seine jahrtausendealte Geschichte denken: Welches Buch oder welchen Film würden Sie empfehlen, um mehr über dieses Land und seine Menschen zu erfahren?

Georg Enzweiler: Es ist schwierig, ein einzelnes Buch oder einen einzelnen Film zu nennen, um ein so vielfältiges Land mit 1,4 Milliarden Menschen abzubilden. Aber „A Fine Balance“, zu Deutsch „Das Gleichgewicht der Welt“, von Rohinton Mistry als Roman oder der Film „Salaam Bombay“ sind großartige Kunstwerke, die man lesen oder sehen kann, um Indien näherzukommen. 

Joybrato Mukherjee: Indien ist ein äußerst vielfältiges Land, daher fällt es mir ebenfalls schwer, die eine Empfehlung zu geben. Wenn man sich für die indische Diaspora interessiert, würde ich das Buch „Unaccustomed Earth“ von Jhumpa Lahiri empfehlen. Es zeigt, wie Inderinnen und Inder in „fremder Erde“, so die wörtliche Übersetzung, schnell Wurzeln schlagen und wachsen können.

Interview: Michael Flacke (26.03.2024)

 

Verwandte Themen