Auf der Suche nach einer gemeinsamen Vision

Europa ist auf der Suche nach einer gemeinsamen, geopolitischen Strategie.

Spätestens seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist klar: Die Staaten der Europäischen Union brauchen dringend eine gemeinsame geopolitische Vision. Auf einer dreitägigen Konferenz an der Hertie School of Governance in Berlin diskutierten hochrangige internationale Expertinnen und Experten über die aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Möglichkeiten Europas, sich in einer sich neu ordnenden Weltordnung zu positionieren.

Nathalie Tocci ist Direktorin des Istituto Affari Internazionali (IAI), einem renommierten Think-Tank für internationale Angelegenheiten in Rom und eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um die europäische Außen- und Sicherheitspolitik geht. Als Sonderberaterin für mehrere hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der EU-Außenpolitik spielte Tocci eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der European Global Strategy (EGS) 2016, die die strategischen Leitlinien für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU festlegt. Schon damals ging es um die Frage, wie sich die Mitgliedsstaaten resilienter gegenüber Bedrohungen und Krisen aufstellen können. Im Jahr 2024 ist der Bedarf an einer sicherheitspolitischen Strategie größer denn je und man könnte erwarten, dass Tocci einige Ideen hätte, wie das Papier weitergedacht und konkretisiert werden könnte.

Überraschenderweise sieht Tocci derzeit keine Notwendigkeit, die Strategie anzupassen. Warum nicht? „Weil ich es für wenig sinnvoll halte, zum jetzigen Zeitpunkt viel Energie in das Verfassen von Strategien zu stecken. Jetzt ist es Zeit zu handeln“, sagte die Expertin kürzlich auf einer Konferenz der Hertie School of Governance in Berlin. 

Unter dem Titel „Disunity in Diversity?“ waren vom 29. bis zum 31. Mai 2024 zahlreiche internationale Expertinnen und Experten in der deutschen Hauptstadt zusammengekommen, um genau diese Fragen über die Zukunft der EU in Zeiten geopolitischer Neusortierung zu diskutieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Hertie School organisierte die Konferenz gemeinsam mit dem Henry A. Kissinger Center for Global Affairs (SAIS) an der Johns Hopkins Universität, finanziell unterstützt vom DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amts im Rahmen des Programms Helmut Schmidt Distinguished Visiting Chair and Postdoctoral Program. 

Eine Frage der europäischen Identität

Insgesamt sechs hochkarätig besetzte Panels warfen einen Blick auf die Geschichte der EU, die Herausforderungen bei der Bildung einer europäischen Identität, die Auswirkungen innergesellschaftlicher Dynamiken der Mitgliedsländer auf die Gemeinschaft, den Vorwurf der politischen Führungsschwäche, das Verhältnis der EU zur NATO sowie die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union, an der auch Nathalie Tocci, per Videostream aus Rom zugeschaltet, teilnahm. 

Die Hauptherausforderung, wie sie Gastgeberin Marina Henke, Professorin für internationale Beziehungen an der Hertie School und Direktorin des Zentrums für internationale Sicherheit und Helmut-Schmidt-Gastprofessorin am SAIS benannte: Es mangele nach wie vor an einer gemeinsamen strategischen Vision. Nathalie Toccis Ansatz, strategische Überlegungen zugunsten eines handlungsorientierten Ansatzes hintanzustellen, findet sie durchaus fraglich. „Einfach handeln ohne strategischen Rahmen ist oft ineffizient, inkoheränt und intrasparent.“ Zu unentschieden agiere die EU immer noch, was auch an der Komplexität der Problemstellung liege: „Letztlich geht es um die Frage der eigenen Identität: Was ist die Europäische Union, was soll sie für ihre Mitgliedstaaten, für Europa, für die Welt tun, welche Ressourcen kann und will sie mobilisieren, um das globale Umfeld zu gestalten?“, so Henke. „Die EU könnte daran zerbrechen. Gleichzeitig ist es aber auch gut möglich, dass wir eine Wiederbelebung des Europäischen Projekts erleben.“

Teilnehmende der Konferenz „Disunity in Diversity?“ vom 29. bis zum 31. Mai 2024 an der Hertie School for International Security in Berlin

Auch Tocci sieht die EU in diesem Identitätsfindungsprozess unter Druck. Die immer wieder beklagte Uneinigkeit der Mitgliedsländer untereinander, vor allem in außenpolitischen Fragen, sieht sie aber nicht als Hauptproblem. Das befürchtete Auseinanderdriften der EU angesichts der Ukraine-Krise sei nicht eingetreten. Und auch wenn sich angesichts der Haltungen zum Nahostkonflikt in fast allen außenpolitischen Fragen große Uneinigkeit zeige, sei die eigentliche Ursache des Problems eben nicht in den großen zwischenstaatlichen Differenzen zu suchen, wie es mittlerweile zum Standardnarrativ aller EU-Skeptiker gehört. „Oft ist die Einigkeit das eigentliche Problem. Einigkeit in einem allgemeinen Mangel an Mut, Initiative, Führung, Kapazitäten und Durchhaltevermögen. Die Standarderzählung von politisch gespaltenen Staaten ist mir hier zu bequem.“

Deutsch-französische Differenzen

Andererseits: Außenpolitische Differenzen gibt es durchaus, etwa im aktuellen Verhältnis zwischen den EU-Schwergewichten Frankreich und Deutschland. Die Frage ist nur, welche Schlüsse man daraus für die strategische Gesamtausrichtung der EU zieht. Dr. Thu Nguyen, stellvertretende Direktorin des Jacques Delors Centre an der Hertie School, will die Probleme nicht kleinreden. Der „deutsch-französische Motor“ stottere durchaus hörbar, so Nguyen. „Das hat vor allem innenpolitische Gründe; in beiden Ländern stehen die Regierungen unter Druck, wie sie mit Fragen der Energiepolitik, der Haltung zum Ukraine-Krieg oder der EU-Erweiterung umgehen sollen. Und da gibt es eben unterschiedliche Haltungen“. Das sei aber nicht per se ein schlechtes Zeichen. „So hat die deutsch-französische Zusammenarbeit immer funktioniert. Man hat unterschiedliche Positionen, kommt zu einem Kompromiss und sendet damit auch ein Signal der Geschlossenheit an andere Mitgliedsstaaten. Denn wir dürfen nicht vergessen: Das deutsch-französische Verhältnis ist nach wie vor das engste in der EU.“

Häufig wird der Mangel an strategischem Weitblick auf eine gewisse sicherheitspolitische Naivität der EU zurückgeführt. Unter dem Schutzmantel der NATO und vor allem der USA wurde lange Zeit viel zu wenig in die eigene Verteidigungsfähigkeit investiert. Darauf wies Dr. Benedetta Berti, Leiterin der Politikplanung im Büro des NATO-Generalsekretärs in Brüssel, noch einmal in aller Deutlichkeit hin. Erst ein Europa, das sich verteidigen kann, werde von aktuellen systemischen Rivalen wie Russland oder China ernst genommen. „Zu einem glaubwürdigen europäischen Verbündeten gehört zunächst, es mit den Verteidigungsausgaben ernst zu meinen“, so Berti. „Wir müssen erkennen, in welchem Sicherheitsumfeld wir uns inzwischen befinden. Das hat mit der relativ stabilen Situation während des Kalten Krieges nichts mehr zu tun.“

Risiko Trump 

Für die neue angespannte geopolitische Lage sei vor allem der russische Angriffskrieg in der Ukraine verantwortlich. Die Zukunft Europas werde auf dem Schlachtfeld in der Ukraine entschieden, so Berti weiter. „Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Ukraine als souveränes, unabhängiges und demokratisches Land durchsetzt. Sonst wird es immer schwieriger, Putins und Xi Jinpings Vision eines geschwächten Europas etwas entgegenzusetzen.“ Europa müsse insgesamt deutlich wehrhafter werden. Darin waren sich die teilnehmenden Expertinnen und Experten einig. Besonders deutlich brachte dies Nathalie Tocci zum Ausdruck, die es nicht fassen kann, in welch schlechtem Zustand sich Europa derzeit in Bezug auf seine Verteidigungsfähigkeit befindet. „Wenn man Norwegen und Großbritannien dazuzählt, sind wir 29 der reichsten Länder der Welt im europäischen Raum. Und wir sind nicht in der Lage, uns zu verteidigen. Das ist eigentlich unglaublich.“

Und beängstigend, wenn man den Blick über den Atlantik und auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA richtet. Was passiert, wenn Trump Anfang 2025 seine zweite Amtszeit antritt? Wird die NATO in ihrer jetzigen Form weiter bestehen? Was wird aus der Ukraine, wenn die Waffenlieferungen gestoppt werden? Für Charles Landow, Experte und Forscher am Belfer Center for Science and International Affairs an der Harvard Kennedy School, ist die US-Wahl für grundlegende Fragen der transatlantischen Zusammenarbeit weniger entscheidend als viele glauben. „Meiner Meinung nach ist Donald Trump kein Isolationist, auch wenn viele das glauben. Die USA werden sich auch unter ihm um internationale Partnerschaften bemühen, aber in einem viel engeren und interessenorientierteren Sinne als derzeit unter Joe Biden. Trump wird mehr in nationalen Interessen denken“. Zum Szenario eines möglichen Austritts aus der NATO äußerte sich Landow verhalten optimistisch. „Ich glaube nicht, dass wir damit ernsthaft rechnen müssen. Auch wenn es Anzeichen gibt, dass sich die Trump-Administration darauf vorbereitet, die Verteidigungspflicht nach Artikel 5 infrage zu stellen.“

Was bedeutet das alles für die Zukunft Europas? Die Verständigung auf eine gemeinsame außenpolitische Vision bleibt eine Herausforderung. Dabei könnte es hilfreich sein, sich nicht zu sehr von einer innereuropäischen Perspektive vereinnahmen zu lassen, wie Benedetta Berti am Ende des Panels anmerkte. „Wenn wir uns die Menschen anschauen, die derzeit auf den Straßen von Tiflis protestieren, können wir sehr wohl eine klare Vision von Europa erkennen. An solchen Beispielen sollten wir uns orientieren, anstatt zu sehr in der Nabelschau unserer eigenen Probleme zu verharren.“

Klaus Lüber (18. Juni 2024)

 

Verwandte Themen