„Frauen zu stärken, muss ein Ziel der gesamten Gesellschaft werden“

Hirut Woldemariam

Sie war die erste Vizepräsidentin der Universität Addis Abeba und setzte sich in einer von Männern dominierten Politik als Wissenschafts-, Kultur- und Arbeitsministerin durch. Warum der Einsatz für mehr Frauen in Führungspositionen für die äthiopische DAAD-Alumna Hirut Woldemariam Teketel zu einer Lebensaufgabe geworden ist, erzählt sie im Interview. 

Frau Woldemariam Teketel, „Empowerment von Frauen: Ein Weg zu nachhaltiger Entwicklung“ – so lautete der Titel einer Keynote Speech, die Sie im August 2024 vor DAAD-Geförderten in Köln hielten. Wie hängt beides zusammen?
Hindernisse für die Karrieren von Frauen zu beseitigen ist nicht nur moralisch geboten, sondern notwendig, damit eine Gesellschaft ihr volles Potenzial entfalten kann. Für eine nachhaltige Entwicklung brauchen wir 100 Prozent der Menschen, nicht 50 Prozent! Es gibt genug fähige Frauen, aber noch nicht genug Chancen für sie. Dazu müssen sich die Normen und Erwartungen von Gesellschaften ändern, auch und gerade in Afrika, wo patriarchalische Denkweisen noch weit verbreitet sind. Frauen zu stärken, muss ein gemeinsames Ziel der gesamten Gesellschaft werden. Weibliche Vorbilder spielen dabei eine große Rolle, denn Menschen lernen durch Anschauung und Nachahmung.
 

Hirut Woldemariam Teketel bei einer Rede während ihrer Zeit als Kulturministerin


Halten Sie deshalb Frauenquoten bei der Besetzung bestimmter Positionen für sinnvoll? 
Ja. Als ich 2018 Wissenschaftsministerin wurde, habe ich die Regelung eingeführt, dass in den Spitzenämtern jeder staatlichen Hochschule in Äthiopien mindestens zwei Frauen vertreten sein mussten. Auch wenn diese Regel inzwischen nicht mehr gilt, hat sie die Führungsebenen der Hochschulen deutlich verändert. Wir haben damals auch ein Frauennetzwerk gegründet, das weiterhin besteht. Auf regelmäßigen Treffen tauschen wir Ideen aus und ermutigen und unterstützen einander. Solche Netzwerke und auch Mentorinnen-Programme haben eine große Wirkung. Frauen fehlt es oft an Selbstbewusstsein, egal wie qualifiziert sie sind, während Männer eher zu einer überhöhten Selbstwahrnehmung neigen.

Die Vorurteile gegen Frauen in Führungspositionen sind unglaublich stark. Aber ich war entschlossen, Erfolg zu haben – und habe mich am Ende durchgesetzt. Prof. Dr. Hirut Woldemariam Teketel

Sie selbst wurden 2009 zur Vizepräsidentin der Universität Addis Abeba ernannt, als erste Frau in diesem Amt…
Deshalb weiß ich genau, wie es ist, die einzige Frau unter lauter Männern zu sein! Ein paar Jahre vorher hatte ich schon als erste Frau die Leitung des Fachbereichs Linguistik übernommen. Wir haben damals neue Master- und PhD-Programme in Linguistik eingeführt, neue Forschungsprojekte gestartet und einen regionalen Kongress ausgerichtet. Die Zeit als Vizepräsidentin war aber die größte Herausforderung: Der Druck war enorm, denn die Vorurteile gegen Frauen in Führungspositionen sind unglaublich stark. Um meine Fähigkeiten zu beweisen, musste ich in allen Bereichen – Verwaltung, Lehre und Forschung – sehr hart arbeiten. Ich habe drei Kinder und es war nicht einfach, Familie und Beruf zu vereinbaren. Aber ich war entschlossen, Erfolg zu haben, und habe mich am Ende durchgesetzt.

Wie sind Sie dann zur Politik gekommen?
Ich wurde gefragt, weil die Regierung einige neutrale Akademikerinnen und Akademiker im Kabinett haben wollte. Zuerst wurde ich zur Ministerin für Kultur und Tourismus ernannt, nach einer Kabinettsumbildung übernahm ich das Ministerium für Arbeit und Soziales und nach einer weiteren 2018 das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung. Meine wichtigste Aufgabe – und zugleich eine große Chance auf gesellschaftliche Verbesserungen – war die Reform des äthiopischen Hochschulsystems, das seit Ende der 1990er Jahre enorm ausgebaut worden war. Es gab 50 staatliche und 250 private Hochschulen und jede bot alle Arten von Programmen auf allen Ebenen vom Bachelor bis zum PhD an – unabhängig von ihren jeweiligen Ressourcen und Kapazitäten. Im Rahmen der Reform wurden die Hochschulen in drei Kategorien eingeteilt: Forschungsuniversitäten, Hochschulen für angewandte Wissenschaften, die mit der Industrie in ihrer Region zusammenarbeiten, und Gesamthochschulen mit Bachelor-Studiengängen. Die Hochschulen entwickelten außerdem klare fachliche Spezialisierungen, zum Beispiel in Landwirtschaft, Medizin oder Tourismus. Die Dauer der Bachelor-Studiengänge wurde von drei auf vier Jahre verlängert. Außerdem wurden Softskills-Kurse in kritischem Denken, Kommunikation, neuen Technologien und so weiter eingeführt, um die Studierenden besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das alles hat die Qualität der Hochschulausbildung in Äthiopien wirklich verändert.


2021 gingen Sie als Humboldt-Forschungsstipendiatin an das Institut für Afrikanistik der Universität zu Köln. Warum sind Sie in die Wissenschaft zurückgekehrt?
Ich war aus der Regierung ausgeschieden, um für eine Position bei der Afrikanischen Union zu kandidieren, die ich aus Gründen des regionalen Proporzes aber nicht bekam. Erst war ich frustriert – aber dann nahm ich das Stipendium der Alexander von Humboldt‐Stiftung an, das schon mehrere Jahre für mich offengehalten worden war. Den Kontakt zu Köln und meinen deutschen Freundinnen und Freunden hatte ich seit meiner Promotion nie verloren. Die Zeit als Doktorandin war inspirierend und hat mein Leben verändert, das Eintauchen in die deutsche und europäische Kultur öffnete mir das Tor zu einer neuen Welt. Darum fühlte sich die Rückkehr nach Köln wie eine Heimkehr an. Ich genieße es, wieder in der Wissenschaft zu arbeiten. Meine Begeisterung für Sprache nie nachgelassen. Sprachen sind wie lebende Organismen, die sich verändern, in Gefahr geraten und sterben können. Neben afrikanischen Sprachen gehören Soziolinguistik und Sprachenpolitik zu meinen Forschungsgebieten.

Neben Ihrer wissenschaftlichen Arbeit engagieren Sie sich seit Februar 2024 auch wieder politisch: als stellvertretende Generalsekretärin der Organisation of Southern Cooperation (OSC). Was sind deren Ziele?
Die OSC, gegründet 2020, ist ein schnell wachsende zwischenstaatliche Organisation mit derzeit 28 Mitgliedsstaaten aus dem Globalen Südens. Zu meinen Zuständigkeitsbereichen gehören die Wissensentwicklung und Demokratisierung sowie transdisziplinäre Forschung. Derzeit arbeiten wir an einem interkontinentalen akademischen Mobilitätsprogramm nach dem Vorbild von Erasmus+. Wir veranstalten auch wissenschaftliche Kongresse, um Ideen für eine nachhaltige Entwicklung zu finden, und richten transdisziplinäre Forschungszentren ein, die sich mit Problemen in ihrer Region beschäftigen werden. Außerdem arbeiten wir daran, endogenes Wissen in der Region zu pflegen, und bauen ein digitales Informationssystem für den Globalen Süden auf. Die Idee des OSC ist, dass die Länder des Globalen Südens, die ja mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben, diese Herausforderungen gemeinsam angehen. Wir müssen unsere eigenen Lösungen finden, um eine nachhaltige und integrative Entwicklung zu erreichen.

Miriam Hoffmeyer (20. September 2024)

Verwandte Themen