„Europäischer Austausch hat für mich besondere Bedeutung“
Astronaut Dr. Matthias Maurer erzählt im Interview von seiner prägenden Erasmus-Erfahrung, internationalem Austausch im All und auf der Erde und seinem Weg in die Wissenschaft.
Herr Dr. Maurer, über Ihr Erasmus-Jahr an der Universität Leeds 1993 haben Sie einmal gesagt, es sei vielleicht der Beginn Ihrer Reise ins All gewesen. Warum war diese Zeit so wichtig für Sie?
Leeds war mein erster Auslandsaufenthalt im Studium – und für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Als angehender Ingenieur wollte ich unter anderem meine Englischkenntnisse verbessern, aber die Entscheidung für Erasmus war mit vielen Fragen verbunden: Schaffe ich das? Was erwartet mich in Leeds? Was werde ich lernen? Passt das zu meinem Studium oder wird es vielleicht ein verlorenes Jahr? Ich habe den Schritt dann gewagt, und die Zeit in Leeds wurde zu einem sehr positiven Erlebnis und zu einer Initialzündung für weitere Auslandsaufenthalte. Ich habe dann auch in Frankreich und Spanien studiert. Internationale Zusammenarbeit, die für mich als Astronaut sehr wichtig ist, habe ich somit früh gelernt.
Wie hat Sie speziell Ihr Erasmus-Aufenthalt in England geprägt?
Fachlich habe ich an der Universität Leeds eine neue Art des Studiums kennengelernt: Viel Arbeit in kleinen Gruppen, vergleichsweise wenig Theorie, dafür stark orientiert am praktischen Verständnis. Es war eine Konzentration auf die Vermittlung des Wesentlichen, von dem mir viel bis heute in Erinnerung geblieben ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, Studierende nicht mit zu viel Stoff zu überfrachten.
Wie haben Sie sich seinerzeit in England eingelebt?
Mir hat sehr geholfen, dass ich in einer WG mit vier Engländern und zwei Kanadiern gewohnt habe. Das Kennenlernen hat eine Woche gedauert, danach habe ich mich pudelwohl gefühlt. Noch heute bin ich in Kontakt mit meinen ehemaligen Mitbewohnern. Auch hat die Zeit in England definitiv meinen Blick auf Europa geöffnet.
Inwiefern?
Damals konnte ich auf mein Motorrad springen und mit meinem deutschen Personalausweis problemlos nach England fahren. Dass das mittlerweile nicht mehr so einfach ist, habe ich unlängst bei einer Reise auf die Insel erlebt. Mit dem Brexit hat der deutsch-britische Austausch an Selbstverständlichkeit und Freiheit verloren, die ich noch erleben durfte. Europäischer Austausch hat für mich besondere Bedeutung. Ich komme aus dem Saarland und habe im benachbarten Frankreich früh die Gedenkstätte Verdun besucht, die an das schlimmste Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs erinnert. Krieg und Streit sind eine Art, sich mit seinen Nachbarn auseinanderzusetzen. In England habe ich gelernt, wie man mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis, mit einer anderen Sprache, klarkommt. Das hat für mich den Weg gezeigt, wie man in einem vereinten Europa zusammenleben kann.
Nach Ihrer Zeit an der Universität Leeds haben Sie auch Frankreich und Spanien durch Ihr Studium näher kennengelernt. Wie waren Ihre Erfahrungen in beiden Ländern?
In Frankreich ist mir ein weiterer fachlicher Ansatz begegnet, bei dem sehr tief in die Theorie eingestiegen wurde, etwa in Mathematik, Physik und Technische Mechanik. Ich musste mich durchboxen: Nachdem es in England so gut gelaufen war, dachte ich, dass es an der European School for Materials Technology in Nancy ähnlich wird. Aber in Frankreich war es für mich nicht nur fachlich anspruchsvoll. Mein Schulfranzösisch reichte nicht, um mich direkt wohlzufühlen und zurechtzukommen. Das hat seine Zeit gebraucht.
Und wie war es in Spanien?
Die Gewichtung von Praxis und Theorie war sehr ähnlich wie in Deutschland. Das hat es mir leicht gemacht, mich einzugewöhnen. Spanisch musste ich erst lernen, aber das hat recht gut geklappt. Den Aufbau des Curriculums an der Universitat Politècnica de Catalunya in Barcelona fand ich vergleichbar mit dem Studium an meiner Heimathochschule, der Universität des Saarlandes. Und mir hat die große Warmherzigkeit und Offenheit der Spanier beim Eingewöhnen geholfen. Ich kann sagen: Jede meiner europäischen Studienerfahrungen war toll – und ich habe aus jedem Land etwas mitgenommen, das mich weitergebracht hat.
Auch mit Blick auf Ihre Karriere als Astronaut?
Ich denke, mein europäischer Weg war ein entscheidender Baustein für meine Auswahl durch die ESA (European Space Agency). Neben mir wurden seinerzeit von 8.500 Kandidatinnen und Kandidaten nur sieben von der ESA ausgewählt. Rein technisch und fachlich hätten es von den 8.500 sicherlich die meisten auch schaffen können, aber ich glaube, meine starke europäische Prägung war ein entscheidender Vorteil.
Man muss als ESA-Astronaut also auch europäisch denken?
Ich möchte das mit einem Blick von außen verdeutlichen: Als Astronaut fliegt man in rund 90 Minuten einmal um die Erde. Es dauert gerade einmal fünf Minuten, und schon ist man über Europa hinweggeflogen. Weltweit können wir als Europäerinnen und Europäer nur mithalten, wenn wir an einem Strang ziehen. Wir müssen weiter zusammenwachsen, und das heißt, wir müssen manche nationale Befindlichkeit und Dinge, die uns historisch trennen mögen, hinter uns lassen. Wir müssen weiter zueinander finden und eine gemeinsame europäische Identität aufbauen. Die verschiedenen Länder Europas und seine vielfältigen Unterschiede in Kultur und Sprache bedeuten einen Reichtum, der uns auch Vorteile gegenüber anderen Raumfahrtnationen bietet.
Interview: Johannes Göbel (17. Oktober 2024)