Existenzielle Dimension der Literatur
Professor Dr. Søren R. Fauth, international anerkannter Germanist an der Universität Aarhus in Dänemark, hat den Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis des DAAD erhalten. Auch außerhalb des akademischen Betriebs wirbt er in seinem Heimatland für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und Kultur.
Herr Professor Dr. Fauth, Ihr Interesse gilt der Epoche des Realismus, insbesondere den Werken Wilhelm Raabes und Arthur Schopenhauers. Inwiefern ist Ihre Forschung für unsere heutige Gesellschaft relevant?
Schopenhauers Philosophie ist hochaktuell und in meinen Augen die adäquateste Deutung des menschlichen Lebens. Das moderne Menschenbild beginnt mit ihm, auch Freuds Anthropologie basiert auf seinen Ideen. Freuds These, dass „der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist“, hat seine gedanklichen Grundlagen in Schopenhauers Konstruktion des „Willens“, der als irrationaler Trieb, als zielloses und blindes Streben den Menschen vorantreibt. Aktuelle Beispiele für dieses unersättliche Verlangen sind die technologische Entwicklung und die psychologische Wirkung von Social-Media-Plattformen: Instagram, TikTok oder Facebook nutzen für ihren Markterfolg unseren nie zu stillenden Drang nach einem „immer mehr“, das im Grunde nicht genau zu bestimmen ist.
Auch für den Diskurs um Klimawandel und Umweltschutz kann Schopenhauer uns ein Erklärungsmodell dafür liefern, wieso es den Menschen so schwerfällt, nachhaltig zu handeln und die Ausbeutung unseres Planeten zu drosseln.
Schopenhauers Ideen sind also auch für ein junges Publikum interessant?
Ja, seine Werke waren für mich als Student eine Offenbarung, jeden seiner Gedanken konnte ich nachvollziehen. Deshalb habe ich mit 26 Jahren angefangen, den ersten Teil von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ins Dänische zu übersetzen. Mich hat es gestört, dass die dänische Fachphilosophie Schopenhauer ignorierte. Meine Übersetzung hat schließlich zu einer Schopenhauer-Rezeption in Dänemark geführt, unter anderem auch in der zeitgenössischen Literatur. Ebenso großen Einfluss nehmen mittlerweile meine Übersetzungen der Romane Thomas Bernhards, die dank ihrer vertrackten, anspruchsvollen Sätze dem avantgardistischen Literaturbetrieb Dänemarks als Vorbild dienen.
„Ich sehe mich als Vermittler zwischen dänischer und deutscher Kultur.“ Prof. Dr. Søren R. Fauth
Die deutsche Sprache war in Dänemark immer sehr wichtig. Welche Rolle spielt sie aktuell in Ihrem Heimatland?
Für die deutsch-dänischen Beziehungen gibt es ein starkes politisches Bewusstsein, Deutschland und Dänemark sind schließlich auch geografisch miteinander verbunden. Zudem ist Deutschland der größte Exportmarkt für Dänemark. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es fatal, dass es immer weniger junge Menschen gibt, die das Deutsche beherrschen. Als ich Abitur machte, lernten 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf dem Gymnasium Deutsch als zweite Fremdsprache, heute sind es nur noch vier Prozent. Das spiegelt sich auch an unserem Institut in der Anzahl der Germanistik-Studierenden wider, die seit Jahren sinkt. Dieselbe kritische Entwicklung beobachte ich für das Fach Französisch. In der mangelnden sprachlichen Vielfalt sehe ich eine Verarmung, der politisch entgegengesteuert werden muss. Ich selbst bin in meinem Arbeitsalltag immer zwischen den Sprachen unterwegs und sehe mich als Vermittler zwischen dänischer und deutscher Kultur, beispielsweise als Moderator von Veranstaltungen oder Autor von Zeitungs- oder Radiobeiträgen. Zudem halte ich im Jahr zwischen 20 und 30 Vorträge über deutsche Geistesgeschichte, verbunden mit aktuellen Themen.
Wie gelingt es Ihnen trotz der gesellschaftlichen Veränderungen, den akademischen Nachwuchs für die Germanistik zu begeistern?
Indem ich auf Power-Point und Handouts verzichte und versuche, den Unterricht lebendig zu gestalten. Ich spreche so über die deutsche Literatur, als hätte sie tatsächlich etwas mit uns heute zu tun. Für mich sind die Werke von Theodor Fontane oder Thomas Mann keine toten Gegenstände. Ich bringe deshalb auch immer die persönliche, existentielle Dimension der Literatur mit ein. Die größte Herausforderung für unsere Studierenden ist meist die deutsche Sprache, die sie nur durch permanentes Lesen erlernen. Dem entgegen steht als gigantische Hürde die Digitalisierung mit all ihren Ablenkungen im World Wide Web, die uns süchtig machen. Ich bin der erste Akademiker in meiner Familie und weiß nicht, ob mir meine Karriere unter diesen technologischen Voraussetzungen ebenso gelungen wäre. Für mich jedenfalls ist die Literatur mein Leben, früher habe ich nicht weniger als zehn Stunden am Tag gelesen.
Wie haben Sie selbst zur Germanistik gefunden?
Bereits in der Schule war ich begeistert von Sprachen. Mein Lieblingsfach war eigentlich Französisch, aber da mein Vater ursprünglich aus Deutschland kommt, habe ich mich schließlich für ein Germanistikstudium entschieden. In unserer Familie wurde zwar ausschließlich Dänisch gesprochen, wir haben aber immer in der Heimatstadt meines Vaters, Bad Wildungen in der Nähe von Kassel, Urlaub gemacht. Im dritten Semester meines Germanistikstudiums in Kopenhagen ging ich dann mit einem DAAD-Stipendium für ein halbes Jahr an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Das war eine schöne und interessante Zeit für mich, da ich dort sehr viele Bücher von Autorinnen und Autoren gelesen habe, die später für mich prägend wurden. Mein zweiter Auslandsaufenthalt führte mich an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo ich mein erstes Hauptseminar zu Wilhelm Raabe besuchte. Heute gelte ich als Spezialist für dessen Werke – die Zeit in Kiel war für mich also ebenso außerordentlich entscheidend. In Kiel habe ich dann, finanziert vom dänischen Staat, auch zu Raabes Schopenhauer-Rezeption promoviert. Meine Dissertation „Der metaphysische Realist“ konnte ich in eine Direkthabilitation verwandeln, das ist in Dänemark für besonders bahnbrechende Abhandlungen möglich. Dank des Grimm-Preises, der einen einmonatigen Forschungsaufenthalt in Deutschland beinhaltet, gelingt es mir, den Kreis zu meinen Anfängen zu schließen: Voraussichtlich werde ich an die LMU München zurückkehren und zur Verbindung zwischen Kafkas Werken und Schopenhauers Philosophie forschen, ein Thema, das ich mir schon lange vorgenommen habe.
Nicht nur für Ihre akademische Arbeit erhalten Sie viel Anerkennung. Als Lyriker haben Sie in Skandinavien mehrfach Literaturpreise gewonnen.
Selbst künstlerisch tätig zu werden zu können, ist für mich enorm wichtig. Seit 2013 habe ich acht Bücher publiziert, drei kleinere Lyrikbände und vier lange Gedichte von rund 200 bis 300 Seiten mit einer klaren narrativen Struktur. Mein aktueller Band ist am 15. September 2023 erschienen: Er setzt sich unter anderen mit der tragischen Lebensgeschichte meines Vaters und Themen wie Angst, Depressionen, Liebe und Betrug auf autofiktionale Weise auseinander. Auch die Spuren, die die deutsche Geistesgeschichte bei mir hinterlassen hat, fließen dort mit ein. Zudem gibt es in meinen Texten zahlreiche Verweise auf deutsche Autorinnen und Autoren. Vorbild meiner Poetik ist die amerikanische Beat-Generation: Ich bringe meine Gedichte schnell zu Papier und zensuriere nicht – streiche also nichts, was eigentlich tabuisiert ist. Das lyrische Ich gibt sich zum Teil peinlich preis, hinterfragt wird auch das Konstrukt von Wirklichkeit.
Interview: Christina Pfänder (21.09.2023)