Bereit für das 21. Jahrhundert

Dr. Ervin Malakaj ist Spezialist für die deutsche Medien- und Kulturgeschichte des späten 18. bis 21. Jahrhunderts und als Associate Professor für Germanistik an der University of British Columbia in Kanada tätig.

Der Jacob- und Wilhelm-Grimm-Förderpreis geht in diesem Jahr an Dr. Ervin Malakaj, Associate Professor für Germanistik an der University of British Columbia in Kanada. Damit zeichnet der DAAD einen Wissenschaftler aus, der Themen jenseits des traditionellen germanistischen Kanons ins Zentrum seiner Forschung stellt.

Herr Professor Dr. Malakaj, Sie sind US-amerikanischer Staatsbürger und lehren an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Wie haben Sie zur Germanistik gefunden? 
Meine Beziehung zu Deutschland, seiner Kultur und Sprache entwickelte sich bereits in meiner Kindheit. Meine Eltern und ich stammen aus Bosnien. Während der Jugoslawien-Kriege in den 1990er-Jahren mussten wir fliehen. Wir gelangten nach Deutschland, wo ich schließlich im hessischen Wiesbaden aufgewachsen und zur Schule gegangen bin. Als ich 15 Jahre alt war, sind wir in die USA gezogen – und nach der Highschool habe ich mich für ein Studium der Germanistik an der University of Illinois in Chicago immatrikuliert. Ausschlaggebend dafür war das interessante Germanistik-Programm der Hochschule, aber auch meine deutschen Sprachkenntnisse. 

Innerhalb der Germanistik setzen Sie Ihren Schwerpunkt bei der deutschen Medien- und Kulturgeschichte des späten 18. bis 21. Jahrhunderts. Welche Aspekte stehen für Sie im Vordergrund?
Ich bin zum einen in der traditionellen Germanistik als Literaturwissenschaftler tätig, gleichzeitig arbeite ich komparatistisch und medienübergreifend wie beispielsweise an der Beziehung zwischen Literatur und Film. Meinen Fokus richte ich aber auch auf unkonventionelle Medien: Derzeit forsche ich zu Tarotkarten, die in den 1920er-Jahren einen Kultstatus erlangten. Die Erfahrung, dass man Literatur im Kontext anderer Medien besprechen kann, machte ich bereits im ersten Semester meines Bachelorstudiums an der University of Illinois. Dort habe ich einen Einführungskurs in die deutsche Literaturwissenschaft besucht, der Klassiker von Goethe, Schiller und Kafka sowie die Verfilmungen von deren Werken diskutierte. Das hat mich zu einem großen Goethe-Fan gemacht – obwohl ich ansonsten kanonkritische Arbeit leiste. 

In Ihrer Forschung konzentrieren Sie sich auf die Queer- und Trans-Studies. Was genau ist darunter zu verstehen?
Es sind interdisziplinäre Ansätze, die sich Ende der 1980er-Jahre in den USA aus den schwul-lesbischen Studien entwickelten und sexuelle Identitäten in den Fokus der Untersuchung stellen. In meiner aktuellen Publikation beschäftige ich mich mit „Anders als die Andern“ von Richard Oswald und Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1919, einem der ersten Filme, der das Thema Homosexualität und die mangelnde gesellschaftliche Toleranz ins Zentrum seiner Handlung stellt. Dabei widme ich mich der 100-jährigen Rezeptionsgeschichte des Films und analysiere, welchen Einfluss er auf den Alltag seines Publikums nahm. Queere Menschen haben ihn oft mehrere Male gesehen und als Aufforderung verstanden, sich für ihre Rechte einzusetzen. Gleichzeitig löste er heftige Debatten aus. Nach Wiedereinführung der Filmzensur in der Weimarer Republik wurde „Anders als die Andern“ 1920 verboten – und damit schließlich noch berühmter. Für die queere Bewegung in den 1980er-Jahren war der Film dann auch ein wichtiger Meilenstein.

Mit unserem Kollektiv stellen wir Diskurse ins Zentrum der Debatten, die jahrzehntelang nur am Rande der Germanistik besprochen wurden. Dr. Ervin Malakaj 

In der Literaturgeschichte finden sich sehr frühe Werke zur Homosexualität, beispielsweise die Gedichte der antiken Lyrikerin Sappho von Lesbos. Wer gehört in diesem Kontext zu den prägenden Persönlichkeiten der Moderne?
Spannend finde ich beispielsweise Elisàr von Kupffer, der als Lyriker und Künstler um 1900 für Aufsehen sorgte. Er gab als Erster einen Sammelband zur internationalen homoerotischen Literatur heraus und übersetzte die Texte dabei auch ins Deutsche. Vor dem Hintergrund einer ersten homosexuellen Bewegung hat er damit deutschsprachige queere Menschen in Beziehung zu anderen queeren Menschen in der Welt gesetzt. Dieses Projekt geriet in Vergessenheit – ich arbeite nun daran, es aufzuarbeiten und auch im englischsprachigen Raum wieder einzuführen. 

Sie sind Mitbegründer des wissenschaftlichen Kollektivs „Diversity, Decolonization, and the German Curriculum“. Was ist das Ziel dieser Organisation? 
Unser Augenmerk gilt der Germanistik als solcher: Wir wollen sie inhaltlich erneuern und bereit für das 21. Jahrhundert machen. Dabei ist es uns wichtig, jede Form der Unterdrückung wie beispielsweise Rassismus oder Sexismus sichtbar zu machen und gleichzeitig mithilfe der Hochschullehre langfristig zu eliminieren. Diskurse, die jahrzehntelang als marginalisierte intellektuelle Vorhaben nur am Rande der Germanistik besprochen wurden, stellen wir somit ins Zentrum der Debatten. Mittlerweile ist es unserem Kollektiv gelungen, eine Publikation zu veröffentlichen, die wir Hochschulen mit germanistischen Master- und Promotionsstudiengängen in Nordamerika, Großbritannien und Australien zur Verfügung stellen. Mithilfe der Lehreinheiten und methodischen Vorschläge möchten wir ein Studium gestalten, dessen Curriculum sich an kritischer Forschung orientiert. Den Grimm-Förderpreis werte ich als Bestätigung meiner Arbeit – ich habe mich außerordentlich gefreut, diese Form der Anerkennung zu erhalten.

Welche Bedeutung spielt bei alldem die internationale Zusammenarbeit?
An unserem Kollektiv beteiligen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zahlreicher Länder, die mit ihren Beiträgen unterschiedliche wertvolle Perspektiven und thematische Bezugspunkte liefern. Auch für meine Tätigkeit als Associate Professor an der University of British Columbia halte ich den internationalen Austausch für enorm wichtig. Mein Institut steht in Beziehung mit zahlreichen deutschen Hochschulen, ein wichtiger Partner ist beispielsweise die Bauhaus-Universität Weimar. Unsere Studierenden bekommen die Chance, in Deutschland zu studieren, zu forschen und die deutsche Sprache zu erlernen. Mich wird mein nächster Auslandsaufenthalt, den ich dank des Grimm-Förderpreises um einen Monat verlängern kann, an das Erich Auerbach Institute for Advanced Studies an die Universität zu Köln führen. Dort werde ich an einem Buch zur queeren Medientheorie des Okkultismus im 19. und 20. Jahrhundert arbeiten – darauf freue ich mich schon.

Interview: Christina Pfänder (22.09.2023)

 

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