Stadtplanung aus sozialwissenschaftlicher Sicht

Bauhaus-Universität Weimar

Teilnehmende des Workshops in Jordanien betrachten die Pläne für eine neue Innenstadt von Amman

Bei Workshops in Jordanien, der Türkei und Ägypten haben Studierende mit Förderung im DAAD-Programm "Hochschuldialog mit der islamischen Welt" seit 2012 gesellschaftliche Minderheiten und ihre Lebensumstände untersucht. Für die angehenden Stadtplaner spielte jedoch nicht die Architektur die größte Rolle, sondern das Zusammenleben auf engem Raum und die sozialen und kulturellen Aspekte. Entstanden ist ein reger Austausch zwischen den beteiligten Universitäten.

„Sozialwissenschaftliche Stadtplanung – das ist eher eine Perspektive als ein Fach“, erklärt René Seyfarth. Er koordiniert an der Weimarer Bauhaus-Universität das Projekt „Urban Minorities“, bei dem Studierende mit Methoden der Sozialforschung untersuchen, wie sich die Situation gesellschaftlicher Minderheiten im urbanen Raum darstellt und wo Verbesserungen möglich sind. So beschäftigten sie sich beispielsweise mit der Situation von syrischen Flüchtlingen in Alexandria. Dazu erstellen die Studierenden in Workshops Statistiken und Prognosen, befragen die Anwohner und bilden ihre Meinungen ab. Techniken und Methodik müssen von den Studierenden oft erst erlernt werden „Viele Studierende stöhnen, weil sie bei uns so viel lesen müssen“, sagt Seyfarth.

Einer von denen, die es trotzdem gewagt haben, ist Felix Lackus. Der Student der Urbanistik nahm im März am dritten Workshop im jordanischen Madaba teil. „Jordanien war für mich damals noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt“, erzählt er. „Auch fachlicher Austausch mit Studierenden aus islamischen Ländern war in meinem bisherigen Studium nicht vorgekommen.“ Gemeinsam erkundete die deutsch-jordanische Gruppe das Land und die Hauptstadt Amman. Später wurde sie in Einzelgruppen unterteilt, die sich intensiver mit einer Minderheit im urbanen Raum von Amman auseinandersetzten.

„Mein Team beschäftigte sich mit einem kleinen Stadtviertel namens Al-Qaisya, einem zentral gelegenen Stadtquartier, dessen Bewohner zumeist sehr begrenzte finanzielle Möglichkeiten haben“, sagt Lackus. „Dieses Viertel grenzt an sehr wohlhabende Teile der Stadt. Die verbliebenen Bewohner fürchten, dass sie dazu gezwungen sein werden, ihren bisherigen Wohnort zu verlassen, um weiteren Platz für höherpreisige Wohngegenden zu schaffen – wie viele ihrer Nachbarn vor ihnen.“ Die Einwohner hatten sich dort als geschlossene Gruppe vor gut 50 Jahren angesiedelt, als das Viertel noch weit außerhalb der Stadt lag. Mit der Staatsgründung Israels 1948 und dem damit verbundenen Territorialkonflikt verlor diese halbnomadische Gruppe ihre Lebensgrundlage in der Wanderweidewirtschaft. Zuvor hatten sie Gebiete zwischen der Wüste Negev, der Westbank und dem heutigen Jordanien durchstreift. Die Studierenden besuchten die Menschen in deren Viertel und fanden in Gesprächen mehr über die Verdrängungen heraus. Eine der Teilnehmerinnen verfasste zu diesem Thema ihre Masterarbeit, in die die Ergebnisse eingingen.

Rasante Entwicklung und Vernetzung

Was als Weimarer Kooperation mit der Islamischen Universität Gaza und der Universität von Alexandria begann, hat sich in den bald drei Projektjahren breit entwickelt. „Wir dachten, wir bauen erst einmal einen regelmäßigen Kontakt auf und schauen, wie es läuft“, sagt Seyfarth. Doch die Kontakte intensivierten sich schnell: Deutlich mehr Studierende der Partnerhochschulen verbringen nun einen Teil ihres Studiums an der Bauhaus-Universität, und einige Weimarer entscheiden sich für einen Auslandsaufenthalt an den Orten, an die sie einer der Workshops geführt hat. Bald kam Jordanien mit der Deutsch-Jordanischen Universität und der American University of Madaba hinzu. Alte Weimarer Kontakte nach Istanbul wurden reaktiviert, woraufhin die Şehir-Universität sich anschloss, und schließlich entstand auch eine Partnerschaft mit der Universität Teheran. Deutlich über 200 Personen vom Bachelor-Studierenden bis zum Ph.D.-Kandidaten kamen in den Genuss der DAAD-Förderung. „Das hat unsere Erwartungen weit übertroffen“, erzählt Seyfarth.

Viele Absolventen des Projekts arbeiten nach ihrem Master-Abschluss in Stadtplanungsbüros oder beginnen eine Doktorarbeit, etwa mit Schwerpunkt Entwicklungszusammenarbeit. „Man kann Stadtplanung nicht vom kulturellen und politischen Kontext lösen“, sagt Seyfarth. „Deshalb ist die soziologische Sichtweise, eine Stadt als komplexen sozialen Zusammenhang zu begreifen, eine entscheidende Weiterqualifizierung für die Studierenden.“

Alltag für Minderheiten

Auch Felix Lackus, der gerade an seiner Bachelorarbeit sitzt, möchte in seinem späteren Berufsleben über die rein praktische Planung hinausdenken. „Mich interessieren die konkreten Lebensumstände der Menschen innerhalb einer Stadtgesellschaft. Was bedeutet ein Alltag in verschiedenen Gegenden der Welt? Was sind Parameter für das tägliche Leben?“, sagt er. „Die baulich-räumliche Dimension der Stadt interessiert mich dagegen weniger.“ So wird aus der Stadtplanung, die oft auf Effizienz ausgelegt ist, ein Dienst an Menschen, die sich keine teure Wohnung im Luxusviertel leisten können.

Im nächsten Jahr läuft die Förderung des DAAD für das Projekt nach drei Jahren aus, doch die Vernetzung wird bleiben. „Wir haben schon Anfragen für weitere gemeinsame Projekte“, sagt Seyfarth. „Das Interesse, die Zusammenarbeit nicht abreißen zu lassen, ist von allen Seiten enorm.“

Julia Bähr (23. September 2014)

Weiterführender Link

Projekt "Urban Minorities"