Für ein selbstbestimmtes Leben

Katja Sachsenhauser

Tsedale Gudetta (2. v. r.) dolmetscht für eine gehörlose Lehrerin

Gehörlose Kinder in Äthiopien haben bislang kaum eine Chance auf Bildung. Eine vom DAAD geförderte fachbezogene Partnerschaft zwischen der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Addis Abeba soll für mehr Gerechtigkeit sorgen.

Gehörlose und schwerhörige Kinder finden in Äthiopien nur wenig Aufmerksamkeit. Auch die schulische Situation ist mehr als unbefriedigend: Den Kindern ist es oft nicht möglich, dem Unterricht zu folgen, denn auf ihre speziellen Bedürfnisse wird nicht eingegangen. Schuld daran hat unter anderem die mangelhafte Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, wie Annette Leonhardt erzählt. „In Äthiopien ist die allgemeine Lehrerausbildung auf einem niedrigen Niveau“, sagt die Professorin, die den Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik am Department für Pädagogik und Rehabilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) innehat. „Zudem ist es nicht möglich, sich auf einen Förderschwerpunkt zu spezialisieren. Studierende können an der Universität Addis Abeba einzig den Studiengang ‚Special needs education‘ belegen, der aber keine didaktischen, sondern bildungspolitische Inhalte vermittelt.“

Gezielte Förderung

Annette Leonhardt engagiert sich bereits zum dritten Mal mit einer DAAD-Förderung in Äthiopien und tritt in einer fachbezogenen Partnerschaft gemeinsam mit Professor Tirussew Teferra vom Department „Special needs education“ der Universität Addis Abeba für die Rechte gehörloser Kinder ein. Das aktuelle Projekt wird vom DAAD für vier Jahre mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. „Ziel ist es, ein Curriculum zu entwickeln, das äthiopischen Universitäten zur Verfügung gestellt werden soll“, erklärt Leonhardt. „Es wird grundlegende Informationen zu verschiedenen Formen der Hörschädigung, diagnostische Methoden und didaktische Grundprinzipien enthalten.“

Das Curriculum sei als Fortbildung für Universitätsdozenten und Lehrer an Schulen konzipiert; mit einigen Pädagogen werden die Inhalte des Curriculums auch in der Praxis erprobt. „Wir hoffen, dass der Ertrag sich dadurch multipliziert“, sagt Leonhardt. Sie und ihr Kooperationspartner Tirussew Teferra möchten auch die Eltern der gehörlosen Schüler und Schülerinnen mit einbezogen wissen: Gemeinsam mit den speziell ausgebildeten Pädagogen sollen sie den Kindern die notwendige Unterstützung gewähren. „Bislang werden die Kinder an den Rand der Gesellschaft gedrängt“, so Tirussew. „Doch eine gezielte Förderung ermöglicht ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit zu einem selbstbestimmten Leben ohne Armut.“ Zudem profitierten die Studierenden der beiden Partneruniversitäten von dem gemeinsamen Projekt: „Durch den gegenseitigen Austausch kommen sie in Kontakt mit der jeweils anderen Kultur und können voneinander lernen.“

Offen für Neues

Zum offiziellen Startschuss des Projekts reiste Annette Leonhardt im März 2014 zum ersten Mal mit einer Gruppe von Masterstudierenden nach Addis Abeba. Mit dabei war Miriam Otto: Die Masterstudentin des Studiengangs „Prävention, Inklusion und Rehabilitation bei Hörschädigung“ interviewte Lehrerinnen und Lehrer, die an Schulen für Hörgeschädigte unterrichten, und leistete damit wichtige Grundlagenarbeit für die Entwicklung des Curriculums. „Uns ging es darum, den Ist-Zustand an den Schulen ausschnittsweise zu erfassen, vorrangig die Lehrerausbildung, den Methodeneinsatz, die Fachdidaktik und das Wissen rund um das Thema Hörschädigung“, erzählt Otto. Dabei beeindruckte sie insbesondere die Aufgeschlossenheit der Pädagogen gegenüber dem Projekt: „Es war schön zu sehen, wie wichtig ihnen die Arbeit mit schwerhörigen und gehörlosen Kinder ist, obwohl der Lehrerberuf im Allgemeinen in Äthiopien kein gutes Ansehen genießt“, sagt die Studentin. „Viele haben auch den Willen, sich auf etwas Neues einzulassen wie beispielsweise das Erlernen der Gebärdensprache.“

"Wertvoller Paradigmenwechsel"

So auch Tsedale Gudetta: Die Lehrerin unterrichtet an der privaten Vicktory School für Gehörlose in Addis Abeba. „Ich arbeite nun seit 33 Jahren mit gehörlosen Kindern und habe direkt nach der High School damit begonnen. Die Möglichkeit zu einer Ausbildung hatte ich nie“, so Tsedale. Diese Situation teile sie mit den meisten ihrer Kollegen: Nur zwei haben eine sonderpädagogische Ausbildung durchlaufen. „Unsere Schule muss strukturell und administrativ verbessert und gestärkt werden“, sagt sie. Dabei hat Tsedale Gudetta auch die Situation in den Klassenzimmern im Blick: Die heterogene Zusammensetzung der überfüllten Klassen mit Schülerinnen und Schülern erschwere den Unterricht, ebenso die mangelhafte Ausstattung mit Büchern. Das Projekt der LMU und der Universität Addis Abeba weckt in ihr große Hoffnungen. „Ich sehe darin einen wertvollen Paradigmenwechsel und denke, dass damit in Äthiopien ein neues Kapitel in der Gehörlosenpädagogik aufgeschlagen wird.“ Das Potenzial der gehörlosen Kinder gelte es zu entdecken und zu fördern – davon werde auch die äthiopische Gesellschaft profitieren.

Christina Pfänder (11. Juni 2014)

Weitere Informationen

Fachbezogene Partnerschaften mit Hochschulen in Entwicklungsländern

Das DAAD-Programm der fachbezogenen Partnerschaften mit Hochschulen in Entwicklungsländern wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert. Ziel des Programms ist es, die akademische Ausbildung in Entwicklungs- oder Schwellenländern zu verbessern, deren Hochschulen international attraktiver zu gestalten sowie Studiengänge zu modernisieren. Dabei steht der partnerschaftliche Ansatz im Vordergrund: Gefördert werden Projekte, die deutsche Hochschulen gemeinsam mit ihren Partneruniversitäten konzipieren. Auch der Austausch von Wissen sowie die Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern finden in beide Richtungen statt. Die Projekte werden in der Regel vier Jahre vom DAAD unterstützt und sollen innerhalb dieser Zeit konkrete Ergebnisse wie neu entwickelte Module oder Studieninhalte oder neue Studiengänge hervorbringen.