Genauer Blick auf die Wissenschaftsfreiheit

Dr. Lars Lott

Dr. Lars Lott von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist Mitglied des Teams, das den Academic Freedom Index erstellt. Ein Gespräch über Rückschläge und Fortschritte für die Wissenschaftsfreiheit, Debatten an Hochschulen und die Situation in Deutschland.

Herr Dr. Lott, „Freiheit“ ist das Thema des Wissenschaftsjahrs 2024 und in Deutschland wie auch international wird intensiv über die Freiheit in der akademischen Welt diskutiert. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Wissenschaftsfreiheit?

Das kommt darauf an, welche Perspektive wir einnehmen. Blicken wir auf alle Länder unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl, können wir sagen: Die Wissenschaftsfreiheit ist so geschützt wie selten zuvor in der Geschichte. 2006 war der globale Hochpunkt, heute liegen wir nur knapp darunter. Gewichten wir aber nach Bevölkerungsgröße der Länder, so können wir feststellen, dass die Wissenschaftsfreiheit seit rund zehn Jahren stark abnimmt.

Woran liegt das?

Wir beobachten einen Rückgang der Wissenschaftsfreiheit besonders in bevölkerungsreichen Ländern. China und Indien sind hier hervorzuheben, aber auch in den USA gab es in den vergangenen zehn Jahren Rückschläge für die Wissenschaftsfreiheit. Wenn wir wiederum die Wissenschaftsfreiheit heute mit der von 1973, also vor rund 50 Jahren, vergleichen, sehen wir, dass lediglich in zehn Ländern die Wissenschaftsfreiheit signifikant zurückgegangen ist. Allerdings ist davon eine große Zahl an Menschen betroffen.

Was sind die Ursachen für diese negative Entwicklung?

Die Vermutung liegt nahe, dass Rückschritte in der demokratischen Qualität der Länder auch einen negativen Einfluss auf die Wissenschaftsfreiheit haben. In diesem Zusammenhang ist das verstärkte Aufkommen antipluralistischer Parteien und Akteure zu nennen. Vereinfacht gesprochen: Weltweit setzen Populisten die Demokratie und mit ihr die Wissenschaftsfreiheit einem Stresstest aus.

Zugleich leben wir in Zeiten, in denen zahlreiche Menschen von neuen Zugängen zu Wissenschaft und Bildung oder von ungeahnten Möglichkeiten des wissenschaftlichen Publizierens profitieren.

Grundsätzlich müssen wir beim Blick auf Wissenschaftsfreiheit differenzieren. Es gibt die individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit, welche die Möglichkeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen betrifft, verschiedene Themen zu unterrichten und zu ihnen zu forschen. Wichtig ist aber auch eine institutionelle Komponente: Wie frei sind die Hochschulen selbst, Entscheidungen ohne staatliche Einschränkungen zu treffen? Beides sind wichtige Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit. Der Zugang zur Wissenschaft und die Möglichkeiten des Publizierens sind wichtige Kontextbedingungen für eine gute Wissenschaft, sind aber nicht gleichzusetzen mit dem Konstrukt der Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftsfreiheit in ihrer engeren Lesart betrifft das „Wie frei sind Forschung und Lehre“, während die von Ihnen genannten Trends das „Wer profitiert“ betreffen. Wer an Wissenschaft teilhaben kann und wer von ihr profitiert. Wissenschaftsfreiheit ist darüber hinaus von der Meinungsfreiheit zu unterscheiden.

Können Sie das bitte ausführen?

Nicht alle Meinungsäußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fallen unter das Recht auf Wissenschaftsfreiheit. Unter das Recht auf Wissenschaftsfreiheit fällt jeder ernsthafte Versuch, sich mit Hilfe der Methoden und Standards der jeweiligen Disziplin der Wahrheit anzunähern. Demnach fällt nicht jede Meinungsäußerung, welche von Hochschulangehörigen oder an der Hochschule getätigt wird, unter die Wissenschaftsfreiheit. Weltweit wird engagiert über beide Freiheiten diskutiert – wir tun aber gut daran, zwischen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu differenzieren. Wir erleben in aktuellen Diskussionen verstärkt, dass sich Personen auf die Wissenschaftsfreiheit berufen, um ihren eigenen politischen Meinungsäußerungen mehr Gewicht zu verleihen.

Das betrifft auch die Debatten an Hochschulen?

Ja, und dabei dürfen wir nicht vergessen: Die Hochschule war schon immer ein politisch umstrittener Raum, mit Protesten und Debatten, die mitunter auch unfair und verletzend waren und sind. Hochschulen sind Orte der Konfliktaustragung. Das erleben wir gerade. Wir müssen von Fall zu Fall schauen, ob tatsächlich immer die Wissenschaftsfreiheit gefährdet ist oder ob es beispielsweise um das Recht auf Meinungsäußerung der Hochschulangehörigen geht. Es ist zum Beispiel völlig in Ordnung, wenn Hochschulen Rahmen und Schwerpunkte zu Debatten setzen – solange das auf ihren eigenständigen Entscheidungen beruht und nicht auf externem Druck und staatlicher Einflussnahme.

Wie ist es um die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland bestellt?

Die Daten unseres Academic Freedom Index zeigen, dass Deutschland weiterhin sehr gut abschneidet und beim Grad der Wissenschaftsfreiheit weltweit zur Spitzengruppe zählt. Das heißt aber nicht, dass es bei uns keine Probleme gibt. So lohnt zum Beispiel der Blick auf die exorbitant hohe Quote des befristet beschäftigten wissenschaftlichen Personals. Die Dauer der Beschäftigung hat natürlich einen Einfluss darauf, wie frei geforscht werden kann und welche Themen mit welcher Intensität behandelt werden können. Eine weitere Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland sehe ich darin, dass diese zunehmend von Interessengruppen politisch aufgeladen wird, um der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Um das zu verhindern, ist es entscheidend, bei Diskussionen um die Wissenschaftsfreiheit genau hinzuschauen.

Interview: Johannes Göbel (31. Mai 2024)

Verwandte Themen