Komponistin Unsuk Chin: DAAD-Stipendium als Karriere-Grundstein
Manche bezeichnen den Ernst von Siemens Musikpreis als den „Nobelpreis für Musik“. Für herausragende Leistungen wird er jährlich in den Kategorien Komposition, Interpretation oder Musikwissenschaft vergeben. Diesjährige Preisträgerin ist die koreanische Komponistin und DAAD-Alumna Unsuk Chin. Im Interview spricht sie über den Preis, ihre Musik und ihre Wahlheimat Berlin.
Frau Chin, was bedeutet Ihnen der Ernst von Siemens Musikpreis?
Er bedeutet mir sehr viel, denn dieser Preis ist etwas ganz Besonderes. In der Musikkultur spielt er eine herausragende Rolle. Er ist eine sehr hohe Form der Anerkennung mit großer Breitenwirkung. Das habe ich an den Reaktionen gemerkt. Seit gut 20 Jahren bekomme ich immer mal wieder hochdotierte Preise, doch diese sind meistens nicht so bekannt. Diesmal jedoch ist es anders. Noch nie habe ich so viele Gratulationen bekommen. Ich habe mich sehr gefreut. Denn bisher haben vor allem viele Europäer und nur wenige Frauen diesen Preis bekommen. Daher war es auch eine große Überraschung für mich.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich schreibe an meiner zweiten Oper. Es ist eine Auftragskomposition für die Staatsoper Hamburg. Zum Inhalt darf ich aktuell noch nichts verraten. Man sollte sich eine Auftragskomposition aber nicht so vorstellen, dass dem Komponisten genaue Vorgaben gemacht werden. Der ungefähre Rahmen wird vorgegeben: die Besetzung, die Form und die Dauer der Musik. Doch als Komponist kann man immer auch seine eigenen Ideen einbringen und muss diese dann in die musikalischen Parameter umsetzen. In der frühen Phase einer Opernkomposition arbeitet man zunächst ziemlich viel allein. Später kommt die Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren hinzu. Gerade bei einer Opernproduktion ist das manchmal dramatischer als das Werk selbst.
Sie wurden recht früh mit Musik sozialisiert, haben als Kind Klavier gespielt. Wie sind Sie zum Komponieren gekommen?
Ich hatte immer eine Leidenschaft für Musik, aber für eine Karriere als Pianistin hätte es vielleicht nicht gereicht. Da wir nur wenig Geld hatten, hatte ich zunächst keinen Unterricht und habe mir viel selbst beigebracht. Mit zwölf, dreizehn Jahren hatte ich dann einen Musiklehrer. Er hat mich darauf gebracht, es doch mal mit dem Komponieren zu versuchen. Okay, dachte ich, dann komponiere ich halt. Aber eigentlich war es für mich damals nur die zweite Wahl. Auch das Komponieren habe ich mir autodidaktisch beigebracht. Die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule habe ich erst im dritten Anlauf geschafft.
Sie haben dann von 1985 bis 1988 mit einem DAAD-Stipendium bei György Ligeti, damals Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, studiert. Warum wollten Sie nach Deutschland?
Für koreanische Musiker ist klar, dass man auch im Ausland studieren muss, entweder in Amerika oder in Europa beziehungsweise Deutschland. Und Ligeti war damals in den 80er-Jahren einer der berühmtesten Avantgardemusiker der Welt. Doch ohne DAAD-Stipendium hätte ich mir diesen Traum nicht erfüllen können. Mein damaliger Professor hatte Kontakte zum DAAD und zu Ligeti. Er hat mich sehr gut auf die Bewerbung für das Stipendium vorbereitet.
In einem Interview haben Sie unlängst erzählt, dass Ihre erste Zeit in Deutschland nicht leicht war. Dennoch leben Sie inzwischen seit mehr als 30 Jahren als erfolgreiche freischaffende Komponistin in Berlin und bezeichnen Deutschland als Ihre zweite Heimat. Was ist passiert?
Am Anfang war es sehr schwierig für mich. Man muss wissen, dass Südkorea damals noch sehr isoliert war. Wir wussten nicht viel von anderen Ländern und waren nicht sehr weltgewandt. Für mich war der Aufenthalt in Deutschland daher zunächst ein Kulturschock. Hinzu kam, dass Ligeti ein sehr strenger Lehrer war, der sehr viel von seinen Studierenden verlangt hat. Damals habe ich mich intensiv mit der Darmstädter Avantgarde beschäftigt – und habe sie in meinen Kompositionen ein bisschen imitiert. Das hat Ligeti sehr kritisch gesehen. Das hat mir sehr zugesetzt. Ich bin dann weg aus Hamburg und nach Berlin gezogen. Dort fand ich Anschluss an die elektronische Musik und habe in diesem Bereich jahrelang für ein Tonstudio gearbeitet. Natürlich ist es für junge Komponisten angenehmer, wenn sie Lob bekommen. Doch im Nachhinein muss ich sagen, dass Ligetis Kritik notwendig war, denn dadurch habe ich mich musikalisch weiterentwickelt. Den Grundstein dafür, was ich heute bin, hat jedoch das DAAD-Stipendium gelegt. Es ermöglichte mir mein zweites Leben in Deutschland und war für mich eine große Ehre. Dass Deutschland Menschen aus anderen Ländern diese Möglichkeiten bietet, ist großartig.
Zeitgenössische Musik hat es nicht immer leicht, akzeptiert zu werden. Wie erleben Sie das Publikum bei der Aufführung Ihrer Werke?
In Berlin sind die Konzerte fast immer ausverkauft. Es gibt ein großes Interesse an Neuer Musik und einen gewissen Grundrespekt gegenüber einem neuen Werk. Auch wenn das Publikum nicht immer alles versteht. Die Leute denken dann nicht, das liege in erster Linie an dem Stück, sondern es liege eher an ihnen. Daran, dass sie sich noch nicht intensiv genug damit auseinandergesetzt hätten. Diese Offenheit in Deutschland gegenüber Neuer Musik und neuen Werken, diese Haltung, ist meiner Meinung nach einmalig in der Welt.
Interview: Claudia Wallendorf (21. Februar 2024)
Zur Person
Unsuk Chin studierte Komposition an der Seoul National University, bevor sie mit einem DAAD-Stipendium nach Deutschland kam. Seit 1988 lebt sie als freischaffende Komponistin in Berlin. Das Anfang der 1990er-Jahre entstandene „Akrostichon-Wortspiel“ für Sopransolo und Ensemble gilt als ihr internationaler Durchbruch. Es wurde bis heute in über 20 Ländern von führenden internationalen Ensembles aufgeführt. Im Auftrag der Staatsoper Hamburg schreibt Unsuk Chin aktuell an ihrer zweiten Oper, die im Mai 2025 uraufgeführt werden soll. Für ihre Werke hat Chin bereits zahlreiche hochdotierte Auszeichnungen erhalten. In diesem Jahr kommt der renommierte Ernst von Siemens Musikpreis hinzu, der Unsuk Chin am 18. Mai im Herkulessaal der Münchner Residenz verliehen wird.