„Wir wollen die Spuren der Geschichte im Stadtraum sichtbar machen“

Das Projekt Mapping the Archive verortet audiovisuelle Kunstwerke auf einer Berlin-Karte.

Das Berliner Künstlerprogramm (BKP) des DAAD ist eines der renommiertesten Residenzprogramme weltweit. 1963 gegründet, verfügt es mittlerweile über ein umfangreiches Archiv, das nicht nur Akten, Publikationen und Grafikmaterial, sondern auch hunderte von Stunden von Audio- und Filmmaterial umfasst. Mit der Webseite Mapping the Archive ist nun ein spannender Ausschnitt aus dem Archiv der Jahre 1975 bis 1993 für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Ein Gespräch mit der Kunsthistorikerin Natalie Keppler und dem Filmwissenschaftler Kaspar Aebi, die beim BKP für die Betreuung des Projekts verantwortlich sind.

Liebe Frau Keppler, lieber Herr Aebi, mit Mapping the Archive haben Sie einen neuen und ungewöhnlichen Ansatz gewählt, um die audiovisuellen Archivbestände des Berliner Künstlerprogramms des DAAD zu präsentieren. Ausgewählte Projekte finden sich nämlich nicht etwa zeitlich, sondern auf einer Berlin-Karte räumlich verortet. Was steckt dahinter?

Natalie Keppler: Die Idee war, das Archiv auf eine Art darzustellen, die interaktiv ist und die Ballung der Motive zeigt, mit denen sich die Fellows des Künstlerprogramms beschäftigt haben. Insgesamt wurden 130 Stunden Material digitalisiert, 185 Filme und Videos. Bei der Sichtung ist uns aufgefallen, dass bestimmte Orte immer wieder auftauchen: entlang der Mauer, in Bezug auf die Insellage von Westberlin, Stadtteile, in denen die Fellows häufig gearbeitet haben oder untergebracht waren. Diese Verortung im Stadtraum wollten wir sichtbar machen.

Kaspar Aebi: Natürlich mussten wir die Drehorte erst einmal identifizieren. Dazu haben wir Filmszenen mit Satellitenbildern und historischen Fotos verglichen, nach Anhaltspunkten gesucht und uns angeschaut, wie sich die Stadt über die Jahre verändert hat. Irgendwann bekommt man ein Gespür dafür, wo man die Spuren der Geschichte noch heute im Stadtbild sieht und wie diese die Stadtstruktur beeinflussen. Vor diesem Hintergrund ist der Film „Persistence“ von Daniel Eisenberg spannend. Er kombiniert in Deutschland entstandene Aufnahmen des US-amerikanischen Signal Corps aus den Jahren 1945–46, Szenen aus Roberto Rosselini‘s Film „Germania Anno Zero“ und eigene Aufnahmen aus den Jahren 1991–92. Eine sehr kluge Auseinandersetzung mit den Brüchen und Kontinuitäten deutscher und europäischer Geschichte.

Hat Sie bei der Sichtung des Materials etwas ganz besonders überrascht?

Natalie Keppler: Hier würde ich gerne die Filmemacherin Shelly Silver herausstellen. Sie war 1992, also nach der Wende, für mehrere Monate in Berlin und fragte sich, weshalb über bestimmte Themen nicht offen gesprochen wurde. Für ihr Projekt „Former East/Former West“ hat sie dann hunderte von Menschen aus dem ehemaligen Ost- und West-Berlin auf der Straße in einem offenen Interview-Format darum gebeten, ihre Gedanken zu Begriffen wie Heimat, Nationalität, Sozialismus, Wiedervereinigung, Kapitalismus oder Bürgergeld mit ihr zu teilen – und dabei sehr ehrliche Antworten zu ihren Hoffnungen und Ängsten bekommen, die teils erschreckend aktuell sind.

Filmstill aus „Former East/Former West” Shelly Silver (1994)

Eine gemeinsame Besonderheit aller Arbeiten ist, dass sie sowohl Kunst als auch historisches Zeitzeugendokument sind. Welche Relevanz und Bedeutung messen Sie dem Projekt zu – für das Künstlerprogramm, für Berlin und für den Austausch auf internationaler Ebene?

Kaspar Aebi: Das Projekt schafft ein Bewusstsein dafür, wie sich unterschiedliche Schichten von Geschichte in einer Stadt überlagern. Und besonders in Berlin ist das auch immer auf internationaler Ebene relevant. Hier werden in der Stadtlandschaft politische Interessen und das jeweilige internationale Beziehungsgefüge sichtbar. 

Können Sie das konkretisieren?

Kaspar Aebi: Am offensichtlichsten wird das natürlich in der Beschäftigung mit der Berliner Mauer, die sich thematisch durch viele der Arbeiten zieht. Doch auch darüber hinaus finden sich interessante Perspektiven: Aus den 1980er-Jahren befindet sich im Archiv viel Material von jüdisch-amerikanischen Filmschaffenden, vor dem Hintergrund, dass zu dieser Zeit eine Aufarbeitung der Shoah durch die Kinder der Überlebenden einsetzte und die ersten Sammlungen von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entstanden. Ein Beispiel ist „Ein verlorenes Berlin“, ein Film von Richard Kostelanetz und Martin Koerber über den Jüdischen Friedhof Weißensee aus dem Jahr 1983. Auch spannend ist die senegalesische Filmemacherin Safi Faye, die 1979 in Berlin war und den Film „Man Sa Yay“ über das Leben eines senegalesischen Studenten in der Berliner Diaspora drehte.

Wie wird es nun weitergehen mit Mapping the Archive? Wird das Projekt noch weiter wachsen?

Natalie Keppler: Wir erheben natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bilden nur einen kleinen Ausschnitt des Archivs ab. Mapping the Archive soll aber weiterwachsen und neu erschlossene Digitalisate aus dem Archiv öffentlich zugänglich machen. So planen wir zum Beispiel, eine im Archiv aufgetauchte Reportage von DW-Transtel über die Zeit von Safi Faye in Berlin bald zu veröffentlichen.

Josefine Köhn-Haskins (10. Juni 2024)

 


 

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