„Hochschulen haben eine Verantwortung, zu Toleranz und Respekt beizutragen“

Amerikanische Eliteuniversitäten wie Harvard waren zuletzt verstärkt Schauplätze antisemitischer Agitation.

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel haben antisemitische Übergriffe an deutschen Hochschulen zugenommen. Auch in vielen anderen Ländern kommt es im akademischen Raum zu politisch induzierten Spannungen. Als DAAD-Außenstellenleiter New York hat Benedikt Brisch die aktuellen Entwicklungen im US-amerikanischen Hochschulsystem genau in Blick und beobachtet eine intensive Auseinandersetzung zu Meinungsfreiheit und ihren Grenzen. Vor ganz anderen Herausforderungen stehen die Hochschulen im muslimisch geprägten Jordanien. Im Zuge des Gaza-Kriegs haben sie sich, zumindest zeitweise, in Orte des Protests verwandelt, berichtet Benjamin Schmäling, Leiter der Außenstelle Amman.

Herr Brisch, Intifada-Rufe vor der Universität, israelfeindliche Propaganda auf Flugblättern, problematische Kunstaktionen auf dem Campus: Der Gaza-Krieg führt an deutschen Universitäten zu erheblichen Konflikten. Wie beurteilen Sie die Situation in den USA?

Zusätzlich zu Israel sind die USA eine wichtige sichere Heimstatt für Jüdinnen und Juden, auch aus dem historischen Kontext von jüdischer Migration vor Verfolgung in Europa seit dem 19. Jahrhundert und dann natürlich in Folge des Holocaust. Dass Jüdinnen und Juden in Israel nach dem Massaker der Hamas nun zusätzlich noch von lautstarken, radikalen Gruppen an US-Hochschulen angefeindet werden, empfinden große Teile der jüdischen Community als doppelten Schock. Und auch viele nicht-jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner fragen sich, wenn sie offenen Israel-Hass sehen, darunter das Rechtfertigen des Hamas-Massakers als „Widerstand“ durch Studierende und Intellektuelle an Elite-Universitäten: Was ist da los, wie kann das sein?

Jordanien beherbergt mit 2,3 Millionen Menschen die höchste Anzahl palästinensischer Geflüchteter weltweit; eine kritische Haltung zu Israel bis hin zu Antisemitismus ist weit verbreitet in der jordanischen Gesellschaft. Zeigt sich das auch an den Universitäten?

Benjamin Schmäling: Normalerweise sind die Hochschulen in Jordanien keine Orte der politischen Meinungsbildung oder gar des Protests. Im Zuge des Gaza-Kriegs haben sie sich aber tatsächlich in solche verwandelt. Insbesondere in den ersten Wochen fanden dort Proteste gegen das Vorgehen Israels und für einen Waffenstillstand statt. Neben einer allgemeinen Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung spielen dabei auch die persönlichen Verbindungen vieler Jordanierinnen und Jordanien nach Gaza und in die Westbank eine Rolle; immerhin hat weit über die Hälfte von ihnen palästinensische Wurzeln. 

„Auch viele nicht-jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner fragen sich: Was ist da los, wie kann das sein?“
Benedikt Brisch, DAAD-Außenstellenleiter New York

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Jordanien und Deutschland sind eng. Politisch arbeiten die Staaten eng zusammen, beispielsweise um den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben oder im Bereich der Terrorabwehr. Dennoch wird die deutsche Haltung zum Gaza-Krieg kritisch gesehen. Inwieweit wirkt dies auch in das akademische Milieu hinein?

Benjamin Schmäling: Die Kritik an der Haltung Deutschlands und anderer westlicher Staaten ist allgegenwärtig, auch an den Hochschulen. Dies wird allerdings nicht zwingend offen geäußert. Wir nehmen es eher indirekt wahr, etwa in einem Rückgang des Interesses an unseren Beratungsangeboten zum Studium in Deutschland. Zugleich verfügen wir weiterhin über sehr gute Kontakte zu den jordanischen Hochschulen, denen die Zusammenarbeit mit uns nach wie vor wichtig ist. Anders als politische oder politiknahe Akteure werden akademische Organisationen wie der DAAD offenbar als etwas „neutraler“ wahrgenommen. Aufgrund der traditionell engen Beziehungen haben wir hier in Jordanien eine solide Basis. Umso mehr müssen wir aufpassen, dass wir sie nicht aufs Spiel setzen. 

Benjamin Schmäling leitet die DAAD-Außenstelle Amman.

Kritische Haltung nicht mit Antisemitismus gleichsetzen

In Deutschland sind Hochschulen der Raum, wo es am vierthäufigsten zu antisemitischen Vorfällen kommt – nach solchen auf der Straße, im Internet und in öffentlichen Gebäuden. Wie stellt sich dies in den USA und Jordanien dar?

Benedikt Brisch: Das öffentliche Bild der US-Hochschulen im Kontext pro-palästinensischer Proteste entwickelte sich seit Oktober zunehmend problematisch, das zeigte sich auch bei der Anhörung der Präsidentinnen der Elite-Universitäten Harvard, MIT und University of Pennsylvania im Kongress Anfang Dezember 2023. Keine der drei Hochschulpräsidentinnen war bei der Anhörung in der Lage, angemessene Worte zum offenen Antisemitismus an den eigenen Hochschulen zu finden. Damit haben sie auch dem eigenen Selbstverständnis ihrer Elite-Hochschulen widersprochen, die ansonsten großen Wert darauf legen, Rassismus und Hate-Speech nicht zu tolerieren. Der Auftritt vor dem Kongress wurde so von vielen als öffentlich präsentierte Doppelmoral wahrgenommen. Gleichzeitig muss man betonen, dass US-Hochschulen eine sehr diverse Studierendenschaft haben – mit Menschen verschiedenster Ethnien, Religionen und Weltanschauungen. Vielfalt der Stimmen und Meinungen gehört hier dazu und das erzeugt natürlich auch Reibungen. 

Benjamin Schmäling: Unmittelbar gegen Personen gerichtete antisemitische Vorfälle sind mir nicht bekannt. An jordanischen Hochschulen studieren in der Regel aber auch keine Menschen mit israelischem oder jüdischem Hintergrund. Menschen aus Israel begegnet man abgesehen von vereinzelten Touristen insgesamt eher selten. Die zuvor beschriebene Stimmung richtet sich insbesondere in der aktuellen Lage dezidiert gegen Israel und seine westlichen Verbündeten. Diese kritische Haltung sollte man jedoch nicht mit Antisemitismus gleichsetzen. 

„Aufgrund der traditionell engen Beziehungen haben wir hier in Jordanien eine solide Basis. Umso mehr müssen wir aufpassen, dass wir sie nicht aufs Spiel setzen.“
Benjamin Schmäling, Leiter der DAAD-Außenstelle Amman

In den USA reagiert man sensibel auf antisemitische Vorfälle, auch durch die tiefe Verankerung der Erinnerung an den Holocaust in der amerikanischen Gesellschaft. Gleichzeitig berufen sich israelkritische und auch antisemitische Stimmen auf das Recht auf freie Meinungsäußerung. Was bedeutet dies für die Stimmung in der US-amerikanischen Gesellschaft?

Benedikt Brisch: Es gibt leider viele Länder in der Welt, wo es jemanden in Gefahr bringt, eine vom jeweiligen Regime oder einer vermeintlichen Mehrheit abweichende Meinung zu äußern. Zur Demokratie gehört das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht hat einen sehr hohen Rang in den USA; die Meinungsfreiheit geht hier besonders weit – mit zwei wichtigen Einschränkungen: Wenn Hate-Speech und Gewaltverbrechen zusammenhängen, können Täter dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem können die Bürger in ihren Institutionen, beispielsweise Universitäten oder Unternehmen, eigene, strenge Grenzen der Meinungsfreiheit festlegen. Das Verhältnis von Freiheit und ihren Grenzen muss in Demokratien ständig neu verhandelt werden, und das können wir gerade in den USA beobachten. 

Wie beurteilen Sie die Rolle von Hochschulen als Plattformen für den interkulturellen Dialog und die Auseinandersetzung mit sensiblen Themen wie Antisemitismus, insbesondere in internationalen Kontexten, in den USA und Jordanien?

Benjamin Schmäling: Viele jordanische Hochschulen sind international sehr gut vernetzt, sowohl in der Region als auch mit Europa, Asien und den USA. Durch diesen akademischen Austausch bieten sich die Universitäten grundsätzlich schon als Orte der Begegnung und des interkulturellen Dialogs an und verstehen sich auch als solche. Aber auch hier gibt es gewisse Grenzen, die mit dem historischen und politischen Kontext in der Region und insbesondere mit der aktuellen Gewalteskalation zu tun haben. 

Benedikt Brisch: Die Hochschulen in den USA haben eine große Tradition hinsichtlich interkulturellen Dialogs und Auseinandersetzung mit sensiblen Themen im internationalen Kontext. Das war aber nie frei von Konflikten, wie ein Blick auf die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und die Debatte um den Vietnam-Krieg in den 1970er-Jahren und viele weitere internationale Konflikte zeigt, und so sehen wir es auch jetzt wieder. 

Seit Januar 2019 leitet Benedikt Brisch das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus sowie die Außenstelle des DAAD in New York.

Welche konkreten Herausforderungen sehen Sie in der Vermittlung von Werten wie Toleranz und Respekt in multikulturellen Hochschulumgebungen, insbesondere in Bezug auf Antisemitismus?

Benedikt Brisch: Werte wie Toleranz, Diversität und Respekt klingen erstmal positiv, wer will dem widersprechen? In der Realität gehört dazu aber, dass auch missliebige Meinungen ausgehalten werden müssen, sonst könnte man gar nicht von Diversität sprechen. Toleranz brauche ich nicht für die gleiche, sondern für eine andere Meinung. Das Bildungssystem in den USA leistet von der Schule bis in die Hochschulen einen sehr großen Beitrag zur Integration von Einwanderern mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und vermittelt Toleranz und Respekt sehr erfolgreich. Die größte Herausforderung liegt meines Erachtens darin, gerade vor dem Hintergrund aktueller gewaltsamer Konflikte in der Welt zu vermitteln, dass jeder Mensch eine Chance und eine Verantwortung dafür hat, zum Ende der Gewalt, zu Toleranz und Respekt beizutragen. 

Benjamin Schmäling: In meiner Wahrnehmung spielt die Vermittlung von Toleranz und Respekt als Werte an sich im jordanischen Bildungssystem eine zentrale Rolle. Dies deckt sich mit meinen Erfahrungen im Alltag vor Ort. Auch in dieser Hinsicht ist die Situation in Jordanien aufgrund der historischen, politischen und demographischen Gegebenheiten aber eine ganz besondere. Solange auf politischer Ebene keine für alle Seiten akzeptable Antwort in Sicht ist – und diese liegt in der aktuellen Lage vermutlich ferner denn je – ist es schwierig, für gegenseitiges Verständnis zu plädieren. Hier liegt aus meiner Sicht die größte Herausforderung. 

Interview: Klaus Lüber (21. Februar 2024)

 

 

 



 

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