„Wir wollen eine Kultur etablieren, die alle Menschen stärker einbindet“

Die Diversitäts-AG des DAAD setzt sich für Chancengerechtigkeit ein.

Mit seiner Ende 2022 veröffentlichten Diversitätsagenda bringt der DAAD das Thema Vielfalt in alle Bereiche und setzt sich das Ziel, als Organisation diverser zu werden. Wie das konkret umgesetzt wird, erläutern Dr. Jenny Morín Nenoff, Referentin für Vielfalt und Chancengerechtigkeit im DAAD, und Dr. Isabell Lisberg-Haag, die als Diversity-Expertin und Beraterin den DAAD bei der Entwicklung seiner Diversitätsagenda begleitet hat.

Frau Dr. Nenoff, einige Bildungsinstitutionen haben bereits eine Diversitätsbeauftragte; Sie nehmen die neu geschaffene Referentenstelle für Diversität und Chancengerechtigkeit in der Strategieabteilung des DAAD ein, um diese wichtigen Querschnittsthemen noch stärker institutionell zu verankern. Was ändert sich durch Ihren Stellenwechsel konkret?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Als Referentin im Büro für Vorstand und Geschäftsführung war die Koordination der abteilungsübergreifenden Diversitäts-AG und die Entwicklung der Diversitätsagenda eine von vielen Aufgaben in meinem Zuständigkeitsbereich. Im Rahmen meiner neuen Referentenposition kann ich mich nun hauptamtlich dieser sehr bedeutsamen Querschnittsthematik widmen. Außerdem bin ich nun in der Strategieabteilung im Team Nachhaltige Entwicklung integriert, welches die DAAD-Diversitätstagung konzipiert hat, die im Februar 2023 stattfand. Ich freue mich, dass ich zusätzlich zu den Koordinierungsaufgaben auch daran mitwirke, Wissen zu Fragen der Diversität in der Internationalisierung der Hochschulbildung und der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) zu generieren.

Dr. Jenny Morín Nenoff: „Wenn sich eine Vielfalt an Menschen mit ihren Talenten und Fähigkei-ten in unser Bildungswesen einbringt, ist das für alle von Vorteil“.

Der DAAD fördert bereits unterschiedliche Personengruppen. Warum ist eine Diversitätsagenda wichtig? Welche Ziele werden verfolgt?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Die Agenda ist für uns ein Fahrplan für einen kontinuierlichen Entwicklungs- und Lernprozess in den kommenden Jahren. Wir wollen uns als Institution so weiterentwickeln, dass wir die Chancengerechtigkeit in der Hochschulinternationalisierung erhöhen. Dies bedeutet, dass wir Personengruppen internationale Erfahrungen ermöglichen möchten, die der DAAD mit seinen Stipendienangeboten bislang noch nicht oder nur wenig erreicht hat. 

An wen denken Sie da?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Zum Beispiel an Studierende oder Promovierende, die sich als erste aus ihrer Familie für eine akademische Karriere entscheiden, an diejenigen, die Kinder haben oder an Menschen mit chronischen Krankheiten, kurz: an Menschen, die bislang im internationalen akademischen Austausch unterrepräsentiert sind. Sie wollen wir mit den DAAD-Programmen besser erreichen. Es geht nicht darum, immer mehr Schubladen zu öffnen oder gar die vermeintliche Andersartigkeit dieser Personen zu betonen. Unser Verständnis ist, dass sie schlicht dazugehören – als Geförderte ebenso wie als Mitarbeitende von Projekten, die der DAAD fördert. Oder als Dozierende an Hochschulen, die der DAAD im Prozess der Internationalisierung unterstützt. Auch betrachten wir im DAAD unsere internen Strukturen und Prozesse: Bei Neueinstellungen etwa wollen wir Bewerberinnen und Bewerber unterschiedlichster Hintergründe gewinnen und so beispielsweise den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund oder Personen mit Kind erhöhen – auch in Führungspositionen. Denn wenn sich eine Vielfalt an Menschen mit ihren Talenten und Fähigkeiten in unser Bildungswesen einbringt, ist das für alle von Vorteil.  

Dr. Isabell Lisberg-Haag: In Ihrer Frage klang es gerade so, als ob Diversität heute schon etabliert wäre. Das stimmt aber leider nicht. Neulich sagte ein Hochschulprofessor zu mir: Wir machen doch schon so viel für Frauen. Warum müssen wir uns jetzt auch noch um Diversität kümmern? Wenn sich Institutionen mit diesem Thema befassen, dann ist es oft so, dass Führungskräfte von oben ein paar Entscheidungen fällen. Das wird der Öffentlichkeit dann als Prozess verkauft.

Gilt das auch für den DAAD?

Dr. Isabell Lisberg-Haag: Nein. Der DAAD agiert anders, offener. Außerdem wird beim DAAD Gleichstellung nicht mit Diversität verwechselt oder darunter subsumiert. Beide Themenbereiche sind institutionell verankert und werden in enger Abstimmung bearbeitet und vorangetrieben. Es handelt sich um einen Kultur- und Strukturwandel, der einen komplexen und langfristigen Organisationsentwicklungsprozess erfordert. Also deutlich mehr als nur strategische Entscheidungen. Am Anfang war nichts von oben festgelegt, auch wenn der erste Impuls für die Entwicklung einer solchen Agenda von DAAD-Generalsekretär Dr. Kai Sicks ausgegangen ist. Frau Dr. Nenoff und ich haben gemeinsam den „Runden Tisch Diversität“ als Gesprächsformat entwickelt, um möglichst viele Menschen innerhalb der Organisation einzubinden. Die Diversitäts-AG veranstaltet regelmäßig diese „Runden Tische“ mit etwa 30 Beteiligten aus allen Abteilungen des DAAD. Eine solche Runde kann fünf Stunden dauern, und trotzdem geht es da lebhaft zu. Mitarbeitende überlegen: Was hat Diversität mit mir selbst und meiner Arbeit im DAAD zu tun? Der Generalsekretär Dr. Kai Sicks sitzt immer mit am Tisch.

Dr. Isabell Lisberg-Haag: Es geht darum, zu fragen: Wer bewirbt sich eigentlich beim DAAD?

Was besprechen Sie in der Diversitäts-AG?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Zunächst haben wir uns ein Bild vom Ist-Zustand gemacht und uns gefragt: Welche Personengruppen sind beim DAAD unterrepräsentiert? Wir reden auch darüber, welche Privilegien manche Menschen in unserer Gesellschaft haben und welche Zugangshürden für einige Personengruppen bestehen: Hat ein dreifacher Familienvater mit Migrationshintergrund die gleichen Chancen auf einen Job oder ein Stipendium wie eine kinderlose Frau aus einer Akademikerfamilie? Im Augenblick eher nicht. Wir möchten dazu beitragen, dass sich das ändert.

Dr. Isabell Lisberg-Haag: Es geht darum, zu fragen: Wer bewirbt sich eigentlich beim DAAD? Nur Studierende aus Akademikerfamilien? Und warum haben andere Personen nicht einmal Kenntnis davon, dass es den DAAD gibt? Ich habe das selbst erlebt, denn ich komme aus einer so genannten Arbeiterfamilie, und mir fehlten grundsätzliche Kenntnisse über das Hochschulsystem. Als Studentin wusste ich auch erst einmal nichts vom DAAD.

Was haben Sie mit der Diversitäts-AG schon erreicht, was wollen Sie noch erreichen?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Wir haben schon eine Menge geschafft. 2022 hat der DAAD die „Charta der Vielfalt“ unterzeichnet. Damit hat er sich ganz offiziell dazu verpflichtet, Vorurteilen und Hürden im Arbeitsumfeld aktiv entgegenzuwirken. Wir wollen unsere Kommunikation so gestalten, dass wir die oben genannten Zielgruppen besser erreichen und sich somit noch mehr Menschen über unsere Angebote informieren können. Und wir wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die sich bewerben, auch möglichst faire Chancen im Bewerbungsprozess erfahren. Ganz wichtig ist uns hier beispielsweise, Auswahlkommissionen mit Menschen zu besetzen, die sensibel für verschiedene Kontexte und Lebensumstände sind, aus denen heraus sich Menschen beim DAAD bewerben. 

Was meinen Sie damit?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Schon jetzt können Bewerberinnen und Bewerber in unseren Unterlagen freiwillige Angaben machen. Sie können erklären, warum es zum Beispiel zu Verzögerungen in ihrem Studium kam. Etwa, weil sie als Alleinerziehende ein Kind betreut haben oder während des Studiums jobben mussten. Wir wollen mit Trainings dafür sorgen, dass die Personen, die solche Bewerbungen begutachten, sensibilisiert sind für diese Feinheiten. Es gibt noch viel zu tun. Das Fernziel: In einigen Jahren haben wir beim DAAD eine Kultur etabliert, die Menschen mit vielfältigen Bildungsbiografien und unterschiedlichen Lebensumständen stärker einbindet. 

Wie könnte das konkret aussehen?

Dr. Jenny Morín Nenoff: Es könnten sich mehr Menschen trauen, mit einer DAAD-Förderung für ein Semester oder ein vollständiges Studium ins Ausland zu gehen. Dadurch hätten sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt; ihre Karriere verliefe anders. Und sie würden hoffentlich Rollenvorbilder für Menschen in einer ähnlichen Situation. 

Interview: Josefine Janert (13. November 2023)

Zur Person

Dr. Jenny Morín Nenoff ist Referentin für Diversität und Chancengerechtigkeit im DAAD und koordiniert die Diversitäts-AG des DAAD. Sie gehört zum Team Nachhaltige Entwicklung im Referat Strategieentwicklung und Hochschulpolitik. 

Dr. Isabell Lisberg-Haag ist Moderatorin, Diversity-Expertin und Speakerin. Sie berät den DAAD zum Thema Diversität. In ihrem Podcast „Klassenreisen“ spricht sie über soziale Herkunft und Bildungserfolg.


 

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