Engagement für akademische Grundwerte

Im November 2022 hatte der DAAD erstmals den „Fundamental Academic Values Award“ für akademische Grundwerte vergeben. Im Rahmen des Treffens für Stipendiatinnen und Stipendiaten vom 30. Juni bis 2. Juli in Berlin wurde dieser an die Forscherinnen Janika Spannagel (Freie Universität Berlin), Dr. Elizaveta Potapova (Public Policy and Management Institute, Litauen) und Dr. Milica Popović (Central European University, Österreich) verliehen. Der Preis wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.
Die Zahl verheißt nichts Gutes: Für über 50 Prozent der Weltbevölkerung, also rund vier Milliarden Menschen, ist die Wissenschaftsfreiheit auf dem Rückzug. Auch im Rahmen des Treffens der DAAD-Stipendiatinnen und -Stipendiaten zur Relevanz akademischer Grundwerte fand sie gleich mehrfach Eingang in die Begrüßungsworte, mit denen die Veranstaltung am 30. Juni im Audimax der Technischen Universität Berlin startete. Ermittelt wurde sie von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Göteborg in ihrem jährlich herausgegebenen Academic Freedom Index. Insgesamt 180 Staaten bewerten die Forscherinnen und Forscher regelmäßig hinsichtlich der Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Und während Deutschland für den aktuellen Report erfreulicherweise mit auf den ersten Plätzen geführt wird, schneiden viele andere Länder eher schlecht ab.
Dieser Negativtrend gelte leider auch für einige Länder des Europäischen Hochschulraums, wie Peter Greisler, Leiter der Unterabteilung Hochschulen im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in seiner Laudatio zum „Fundamental Academic Values Award“ betonte, der im Rahmen des Treffens verliehen wurde. Deutschland müsse sich in diesem Kontext deshalb auch seiner Vorbildfunktion als attraktiver Partner und als Zielland für kreative Köpfe in der Wissenschaft bewusst sein, so Greisler weiter: „Dies ist auch die Botschaft für die Staaten, die Aufholbedarf bei der Einhaltung der Wissenschaftsfreiheit haben: Es lohnt sich, gute und faire Bedingungen für Forschung und Lehre zu schaffen, denn sie sind die Grundlage für eine starke Forschung und somit auch für Innovation und Wohlstand.“
Was speziell im Europäischen Forschungsraum unter akademischen Grundwerten zu verstehen ist und welche Rolle Wissenschaftsfreiheit dabei spielt, hatten Ende November 2020 gleich zwei wichtige Strategiepapiere umrissen. Zum einen das Kommuniqué der Bologna Ministerkonferenz in Rom, das Wissenschaftsfreiheit und Integrität, Hochschulautonomie, Beteiligung von Lehrenden und Studierenden an der Leitung von Hochschuleinrichtungen sowie gesellschaftliche Verantwortung von und für Hochschulbildung als zentrale Aspekte nennt. Zum anderen die Bonner Erklärung zur Forschungsfreiheit der Ministerkonferenz zum Europäischen Forschungsraum, wonach akademische Freiheit unter anderem das Recht umfasst, „unabhängig und frei Forschungsfragen zu definieren, Theorien auszuwählen und zu entwickeln, empirisches Material zusammenzustellen und fundierte akademische Forschungsmethoden anzuwenden, um anerkanntes Wissen zu hinterfragen und neue Ideen zu entwickeln“.
Wie sich diese Grundwerte im akademischen Kontext bestimmter Länder ausprägen, bleibt eine methodisch anspruchsvolle Frage. Mit Janika Spannagel (Freie Universität Berlin), Dr. Elizaveta Potapova (Public Policy and Management Institute in Vilnius, Litauen) und Dr. Milica Popović (Central European University in Wien, Österreich) wurden drei junge Wissenschaftlerinnen ausgezeichnet, die speziell zum Aspekt der Wissenschaftsfreiheit wertvolle Forschungsarbeit leisten.
Janika Spannagel (Freie Universität Berlin, Deutschland)
1. Platz Fundamental Values Award

Wie kann man Wissenschaftsfreiheit messen? Eine Möglichkeit wäre, Vorfälle von Repression qualitativ zu erfassen, etwa Kündigungen oder sogar die Anwendung physischer Gewalt. Solche Daten sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn die Anzahl der gemeldeten Vorfälle hängt stark von Faktoren wie medialer Aufmerksamkeit oder personellen Kapazitäten bei den Stellen ab, die entsprechende Vorgänge erfassen. Mit solchen Herausforderungen befasst sich die deutsche Politikwissenschaftlerin Janika Spannagel. In ihrer Publikation „The Perks and Hazards of Data Sources on Academic Freedom: An Inventory“ (in: Kinzelbach, K. (Hrsg.), Researching academic freedom – Guidelines and sample case studies, Erlangen: FAU University Press, Seite 175–221) bewertet sie mögliche Datenquellen zur Bewertung von Wissenschaftsfreiheit nach ihren Nutzen und Risiken.
Neben der Sammlung aktiver Vorfälle von Repression können dies auch rechtliche Rahmenbedingungen, anonyme Beschwerden, qualitative Befragungen oder Experteneinschätzungen sein. Jede dieser Informationen habe ihre Stärken und Schwächen, so Spannagel. Wer sich dessen bewusst ist, kann die einzelnen Datenquellen aber so kombinieren, dass am Ende ein methodisch brauchbares und vergleichbares Ergebnis steht. Das beste Beispiel ist der Academic Freedom Index, an dessen Entwicklung Spannagel maßgeblich beteiligt war und der sich als nützlicher Indikator für Wissenschaftsfreiheit etabliert hat. Mit ihrer Analyse denke sie vor allem an die Autorinnen und Autoren von Fallstudien, berichtet sie. „Ich möchte sie in die Lage versetzen, zu verstehen, welche Datenquellen für sie sinnvoll sind und welche nicht.“ Aktuell forscht Spannagel als Postdoktorandin an der Freien Universität Berlin zur Verbreitung und Aneignung von Normen der akademischen Freiheit.
Dr. Elizaveta Potapova (Public Policy and Management Institute in Vilnius, Litauen)
2. Platz Fundamental Values Award

Denkt man an die Erosion akademischer Grundwerte im erweiterten europäischen Kontext, fällt einem vermutlich sehr schnell das aktuelle, kriegsführende Russland ein. Die russische Politikwissenschaftlerin Dr. Elizaveta Potapova hat die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs in der Ukraine untersucht und auf Anzeichen von abnehmender Wissenschaftsfreiheit analysiert. In ihrem Artikel „Speaking Up at Work: Narrative Analysis of Academic Freedom in Russia“ identifiziert sie bestimmte Narrative, mittels derer sich akademische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bestimmten äußeren Zwängen verhalten. Diese gliedern sich in zwei Hauptgruppen, je nachdem, ob Einschränkungen bereits als problematisch empfunden werden, wenn sie den erweiterten Arbeits- und Bekanntenkreis betreffen, oder erst dann, wenn sie in ihrem eigenen Handeln beschränkt werden.
Zugrunde liegt die Art und Weise, wie akademische Fachkräfte ihre berufliche Identität in Bezug auf Studierende, Kollegen, Universitätsverwaltung und den Staat definieren und welche Auswirkungen die akademische Freiheit in diesem dynamischen Kontext hat. Potapovas Forschung basiert auf einer Vielzahl von Tiefeninterviews, die es ihr unter anderem ermöglichen, sehr feine Nuancen im Umgang mit Zensur herauszuarbeiten, die sich in Ländern wiederfinden, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon lange mit Einschränkungen umgehen müssen. „Interessanterweise wird das, was man von außen betrachtet als staatlich verordnete Zensur interpretieren würde, von den Menschen im System gar nicht als solche empfunden“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Gefürchtet wird Zensur erst dann, wenn sie informell stattfindet, nach Regeln, an die man sich noch nicht anpassen konnte.“
Dr. Milica Popović (Central European University in Wien, Österreich)
3. Platz Fundamental Values Award

Wissenschaftsfreiheit wird immer noch viel zu sehr als Freiheit von politischen oder ideologischen Zwängen angesehen. Dabei haben die Einschränkungen, mit denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktuell umgehen müssen, auch eine ökonomische Dimension, die in der Forschung bislang viel zu kurz kommt. Dieser Meinung ist die serbische Politikwissenschaftlerin Dr. Milica Popović, die in ihrer Publikation „Changing Understandings of Academic Freedom in the World at a Time of Pandemic“ unter anderem auch diesen Aspekt von Wissenschaftsfreiheit betrachtet.
Ausgehend von der zunehmenden politischen Relevanz des Themas durch Strategiepapiere der Vereinten Nationen und der Europäischen Union in den Pandemiejahren 2020 und 2021, unternimmt Milica Popović den Versuch, Wissenschaftsfreiheit für das 21. Jahrhundert neu zu definieren und eben auch ökonomische Zwänge. Zum einen auf der institutionellen Ebene der Hochschulen selbst: „Wir erleben eine Kommerzialisierung der Hochschulbildung“, erklärt die Forscherin. „Da Staaten immer weniger dazu bereit sind, in Hochschulbildung zu investieren, sind Universitäten zunehmend auf private Finanzierungsquellen angewiesen. Was im ungünstigsten Fall auch die Auswahl möglicher Forschungsthemen beeinflussen kann.“ Zum anderen wirken ökonomische Zwänge natürlich auch auf der individuellen Ebene. Die Lage junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werde immer prekärer, so Popović. „Wir dürfen nicht erwarten, dass Menschen, die vollständig auf projektbezogene Finanzierung angewiesen sind, keine Sicherheit und keinen Arbeitsplatz haben, tatsächlich an vorderster Front für die akademische Freiheit kämpfen werden.“
(Klaus Lüber, 13. Juli 2023)