Vielfalt steigert das wissenschaftliche Potenzial

Junge Studierende unterschiedlicher Nationalitäten sitzen in einer Bibliothek zusammen und arbeiten.

Die Ende 2022 veröffentlichte Diversitätsagenda des DAAD beschreibt den Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und Inklusion im akademischen Austausch. Dabei wird Diversität als elementarer Baustein für eine hohe Qualität in Studium, Lehre und Forschung erkannt.

Wenn Katja Urbatsch von ihrem Studienaufenthalt an der Boston University erzählt, gerät sie immer noch ins Schwärmen: „Das war definitiv eines der Highlights in meinem Leben.“ Vermutlich auch deshalb, weil es so schwer für sie war, die Reise in die USA überhaupt zu bewerkstelligen. 

Nach ihrem Grundstudium der Amerikanistik an der FU Berlin hatte sich Urbatsch für ein Auslandsstipendium des DAAD beworben. „Als erste Akademikerin in meiner Familie kannte ich eigentlich niemanden in meinem direkten Umfeld, der mich hierbei hätte unterstützen, auch keine Vorbilder, an denen ich mich hätte orientieren können, wie das vielen meiner Mitstudierenden aus Akademikerhaushalten möglich war“, berichtet sie. „Im Grunde fehlte mir komplett das Gefühl, überhaupt zu denjenigen zu gehören, die Anspruch haben auf eine solche Förderung.“ Wieder zurück in Berlin beginnt sie, anderen Studierenden bei ihren Stipendienbewerbungen zu helfen. „Das war das erste Mal, dass ich gemerkt habe, wie benachteiligt man als Studentin oder Student der ersten Generation in solchen Belangen eigentlich ist. Und wie dringend man das Problem angehen müsste.“ 

Urbatsch wird aktiv und gründet 2008 die Plattform Arbeiterkind.de, ein Beratungsnetzwerk für Erstakademikerinnen und -akademiker. Das Medienecho ist groß, die Plattform wächst und wächst, 2018 wird Urbatsch für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Inzwischen kümmern sich bundesweit rund 6.000 Ehrenamtliche um die speziellen Bedarfe von Studierenden aus nicht-akademischen Familien. „Auslandsaufenthalte stoßen hier immer noch auf große Skepsis. Die vorherrschende Meinung: Das ist bloßer Luxus, der das Studium verlängert und den Jobeintritt verzögert“, erklärt Urbatsch. „Wir wollen ein Bewusstsein für die Chancen von Studienerfahrungen im Ausland auch in diese Kontexte hineintragen.“
 

Eine etwa 40-jährige Frau mit kurzen, rotgefärbten Haaren und rotem Hemd

Tagung zu Diversität und Internationalisierung

Initiativen wie Arbeiterkind.de leisten einen wichtigen Beitrag dazu, wissenschaftliches Potenzial auch bei denjenigen zu fördern, die bislang aus einem Kontext der Benachteiligung heraus einenvergleichsweise erschwerten Zugang zu Förderangeboten haben. Inwieweit Diversität direkt dazu führen kann, die Qualität von Forschung zu steigern, wird gerade sehr kontrovers diskutiert, weil noch nicht ausreichend evidenzbasierte Erkenntnisse dazu vorliegen. Allerdings spricht einiges dafür, dass mehr Vielfalt unter Forscherinnen und Forschern sich tatsächlich positiv auf die Innovationskraft des Wissenschaftssystems auswirkt. „Je mehr Dimensionen der Diversität zusammenkommen – bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, bei den Förderformaten und Themen, auch bei den internationalen Kooperationen –, desto mehr spannende neue Kombinationen und Forschungsergebnisse wird es geben“, so DFG-Präsidentin Prof. Dr. Katja Becker in einem Gespräch mit dem Journalisten Jan Martin Wiarda. „Wir müssen uns die Frage stellen, ob es in Zukunft nicht eher um die Förderung von Potenzialen gehen sollte als um die Suche nach den vermeintlich Besten der Besten“, formulierte es Vito Cercere, Beauftragter für Außenwissenschafts-, Bildungs- und Forschungspolitik im Auswärtigen Amt, Anfang Februar 2023 auf der DAAD-Tagung zu Diversität und Internationalisierung. Im Rahmen dieser zweitägigen virtuellen Veranstaltung tauschten sich Vertreterinnen und Vertreter von Hochschulen, Geförderten und der Politik darüber aus, wie internationale akademische Mobilität für bisher unterrepräsentierte Gruppen zugänglicher und attraktiver gestaltet werden könnte. 

Die Diversitätsagenda des DAAD

Bereits im November 2022 hatte der DAAD im Rahmen seiner Diversitätsagenda Diversität, Chancengerechtigkeit und Inklusion als elementar für den akademischen Austausch definiert. „Wenn vielfältige Menschen Zugang zu internationalen Bildungs- und Forschungserfahrungen erhalten, gewinnt der Dialog zwischen Menschen verschiedener Länder und Kulturen weitere Dimensionen der Begegnung hinzu“, so heißt es dort. Um die Vielfalt der Stipendiatinnen und Stipendiaten zu erhöhen, möchte der DAAD insbesondere die familiäre Migrationsgeschichte, den Bildungshintergrund, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Versorgungspflichten, die Abhängigkeit von Erwerbstätigkeit sowie die geschlechtliche Identität noch stärker als bisher im Förderhandeln berücksichtigen.

Die Schritte dorthin seien allerdings herausfordernd, sagt Dr. Jenny Morín Nenoff, Referentin im Büro für Vorstand und Geschäftsführung und Koordinatorin der abteilungsübergreifenden Diversitäts-AG im DAAD. Vor allem im Bereich der Forschung ist es notwendig, historisch gewachsene Leistungsstandards und Qualitätskriterien neu zu definieren. „Gute und zukunftsgerichtete Wissenschaft lebt von Perspektivenvielfalt in Bezug auf Fragestellungen und Ideen. Diese sind oft in den individuellen Biografien der Wissenschaftlerpersönlichkeiten begründet“, so Nenoff. „Wir brauchen einen Kulturwandel, um inklusive Forschungs-, Arbeits- und Lernbedingungen zu schaffen.“
 

Eine junge deutsch-kubanische Frau mit schwarzen Haaren, lächelnd.

Chancengerechter Zugang durch digitale Formate

Dieser Perspektivwechsel kann nur gelingen, wenn auch Auswahlprozesse diversitätsbewusster gestaltet werden. Hierfür setzt der DAAD beispielsweise bei der Stipendienvergabe auf einen neu konzipierten Bewerbungsbogen, der es den Bewerberinnen und Bewerbern möglich macht, freiwillig individuelle Lebensumstände anzugeben, etwa auf chronische Krankheiten oder Pflegeverpflichtungen hinzuweisen. „Das soll auf keinen Fall als Nachteilsausgleich verstanden werden“, so Nenoff, „sondern im Gegenteil als Wertschätzung: Wir wollen das honorieren, was diese Personen bisher in ihrem Leben alles geleistet haben.“ Im Bereich der Projektförderung verantworten die Hochschulen den Auswahlprozess. Hier bringt sich der DAAD beratend ein und erstellt im Dialog mit den Hochschulen Leitfäden mit Good-Practice-Beispielen zur Steigerung von Diversität und Chancengerechtigkeit. 

Eine wichtige Rolle werden in Zukunft auch hybride und digitale Formate spielen. Dieser Punkt ist zum Beispiel Dr. Nicole Edwards sehr wichtig. Die Professorin für Public Health and Social Work an der University of Southern Queensland in Brisbane, Australien, beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den Herausforderungen von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen im akademischen Kontext. 2022 unterrichtete sie im Rahmen einer DAAD-geförderten Gastdozentur an der Universität Fulda. Für Edwards haben gerade digitale Formate das Potenzial, die Erfahrungen und Perspektiven von Menschen mit Einschränkungen stärker im wissenschaftlichen Diskurs zu verankern. „Wir müssen uns dringend öffnen für die Stimmen von Menschen mit Behinderungen, auch im Kontext der Lehre. Die Herausforderungen der Zukunft sind nur zu bewältigen, wenn wir Möglichkeitsräume schaffen für gemeinsame Entwicklung und Teilhabe.“

Mehr Wissen über benachteiligte Gruppen

Der DAAD leistet hierzu bereits einen wichtigen Beitrag, findet Edwards. Das in der Diversitätsagenda definierte Ziel, in Zukunft noch mehr Wissen über Diversitätsaspekte im internationalen Austausch zu sammeln, geht für sie genau in die richtige Richtung: „Wir müssen noch genauer herausfinden, welche Herausforderungen etwa junge Akademikerinnen mit Behinderung zu bewältigen haben.“ Dabei gehe es nicht nur um Fragen der finanziellen Unterstützung, sondern um die grundsätzliche Einschätzung ihrer Beeinträchtigung in Bezug auf die Leistungsfähigkeit im Wissenschaftssystem. „Im Augenblick dominiert noch die Vorstellung von Behinderung, wie sie sich vor allem im Kontext der industriellen Revolution entwickelt hat: als Ausprägung eines kaputten Körpers, der in seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft mehr oder weniger stark eingeschränkt ist“, erklärt Edwards. Diese Vorstellung sei aber längst überholt. Viele Menschen würden ihre Behinderung oftmals selbst gar nicht als gravierende Einschränkung erleben. 

Wer das Thema Diversität in der Wissenschaft wirklich konstruktiv angehen will, müsse zunächst dafür sorgen, mehr Wissen über die Situation und die Bedürfnisse bislang benachteiligter Gruppen zu sammeln und zu generieren, so eine zentrale Forderung der Wissenschaftlerin. Die Diversitätstagung des DAAD war hierfür bereits ein wichtiger Schritt. „Ziel der Hochschulen sollte es sein, den internationalen Austausch chancengerecht zu gestalten“, so DAAD-Vizepräsidentin Dr. Muriel Helbig in ihrem Grußwort zur Veranstaltung. „Und dazu müssen wir vor allem noch besser verstehen, welchen Barrieren junge Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf dem Weg ins Ausland begegnen.“

Autor: Klaus Lüber (3. Mai 2023)


 

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