„Mit unseren Ansätzen wollen wir Barrieren abbauen“

European Union 2021(CC BY-NC-ND 4.0)/iStockphoto.com

Erasmus+ will in der neuen Programmgeneration vor allem Menschen für den Austausch begeistern, die bisher nicht in Erwägung gezogen haben, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten.

Die neue Erasmus+ Programmgeneration ist unter dem Motto „Enriching lives, opening minds“ angelaufen. Das Budget wurde verdoppelt, zahlreiche neue Programmelemente wurden geschaffen. Agnes Schulze-von Laszewski leitet das DAAD-Referat Erasmus+ Leitaktion 1: Mobilität von Einzelpersonen und spricht im Interview über ihre Mobilitätserwartung an das neue Programm. 

Frau Schulze-von Laszewski, wie groß ist das bisherige Interesse aufseiten der deutschen Hochschulen am neuen Erasmus+ Programm?
Das Interesse seitens der Hochschulen ist sehr groß. Das liegt aber auch in der Natur der Sache: Das Erasmus+ Projekt ist traditionell ein wichtiger Bestandteil des internationalen Austauschs an den Hochschulen. Dies zeigt sich auch an den beantragten Mobilitätsmitteln für die ersten 36 Monate. Insgesamt sind 333 Anträge für die Förderung von 58.934 Mobilitäten von Studierenden und Hochschulpersonal eingegangen. Nach fast zwei Jahren in einer globalen Pandemie ist das eine sehr gute Zahl. Anscheinend hat Corona die Nachfrage nach internationalem Austausch bei Studierenden, Lehrenden und Hochschulmitarbeitenden eher verstärkt. Das gilt in besonderer Weise für das Interesse an den neuen Möglichkeiten des Programms: Sie werden von den Hochschulen wahrgenommen und genutzt. Ein Beispiel dafür sind die Blended Intensive Programmes, eine Kombination aus kurzer Austauschphase vor Ort, verbunden mit virtuellen Komponenten. Hierfür haben wir bereits fast 500 Anträge bekommen. Außerdem können nun bis zu 20 Prozent der Fördermittel einer Hochschule genutzt werden, um die eigenen Studierenden über Europa hinaus in die ganze Welt zu schicken. Von dieser Möglichkeit wollen 90 Prozent der Hochschulen Gebrauch machen.

„Mit unseren Ansätzen wollen wir Barrieren abbauen“

Jan von Allwörden/DAAD

„Das Erasmus+ Programm ist ein wichtiger Bestandteil des internationalen Austauschs an den Hochschulen", sagt Agnes Schulze-von Laszewski.

Welche neuen Möglichkeiten des internationalen Austauschs von Studierenden und Forschenden bietet Erasmus+?
Die Möglichkeiten, innerhalb von Projekten in Länder überall auf der Welt zu gehen, sind vielfältiger geworden. Zudem war uns die Erleichterung des Zugangs ein großes Anliegen. Deshalb wurden im Programm viele Module für unsere Studierenden überarbeitet und stärker geöffnet. Ein Beispiel dafür ist die Option, einen Auslandsaufenthalt mit virtuellen Formaten zu kombinieren. So könnten Studierende nun auch nur zwei Monate im Ausland bleiben und beispielsweise danach ihr Semester virtuell fortsetzen. Über ein entsprechendes Learning Agreement ist die Anerkennung der Leistungen garantiert. Ein neues Format sind auch die erwähnten Blended Intensive Programmes. Dabei können Studierende oder Forschende einen sehr kurzen Auslandsaufenthalt zwischen fünf bis 30 Tagen mit virtuellen Lernformaten verknüpfen. Mit solchen Ansätzen wollen wir Hindernisse beim Zugang zu einem internationalen akademischen Austausch weiter abbauen. Diese neuen Konzepte wenden sich auch an Studiengänge, in denen Studierende traditionell bisher im Erasmus-Programm weniger mobil waren.

Das Vereinigte Königreich hat mit dem Brexit auch das Erasmus+ Programm verlassen. Gleichzeitig ist Großbritannien bei Studierenden und Forschenden sehr beliebt. Wie sieht der zukünftige Austausch hier aus?
Es ist eine sehr bedauerliche Entwicklung, dass Großbritannien mit dem Brexit nicht mehr zum Kreis der europäischen Programmländer gehört. Bis Mai 2023 haben jedoch Studierende und Hochschulmitarbeitende zum Glück in älteren Erasmus-Projekten noch die Möglichkeit eines Austauschs zu den bisherigen Bedingungen. Dieser etwas sanftere Übergang liegt an der Corona-bedingten Verlängerung alter Projekte. Danach wird Großbritannien als Austauschziel ähnlich behandelt wie alle anderen Länder außerhalb der EU. Damit wird mittelfristig leider die Zahl der Studierenden und Forschenden sinken, die sich ihren UK-Aufenthalt über ein Erasmus-Stipendium fördern lassen können. Ob als Reaktion darauf die Nachfrage nach anderen englischsprachigen Hochschulstandorten in Skandinavien oder auch Osteuropa steigen wird, können wir allerdings noch nicht absehen. Aber natürlich ist es auch eins unserer Ziele, Studierenden und Forschenden eben solche Alternativen aufzuzeigen.

Die Coronapandemie hat in Bezug auf akademischen Austausch und Mobilität viel Neues angestoßen. Konferenzen und Vorträge finden häufiger virtuell statt, der digitale Austausch von Wissen hat einen weiteren Schritt nach vorn gemacht. Häufig wird in diesem Zusammenhang von neuen Hybrid-Modellen aus digitaler Lehre und Auslandsaufenthalt vor Ort gesprochen. Inwiefern greift Erasmus+ diese Entwicklung auf?
In der EU hat man schon vor drei Jahren, also vor der Pandemie, damit begonnen, digitale Komponenten für das zukünftige Erasmus-Programm zu entwickeln, und zwar als Bestandteil eines inklusiveren Austausches. Dann kam die Coronapandemie und hat diese neuen Möglichkeiten noch viel stärker in den Fokus gerückt, als man es sich vorher gedacht hatte. Deshalb war es umso wichtiger, dass für das Erasmus+ Programm schon entsprechende Elemente in der Schublade lagen. Die EU-Kommission hat alle Fördermöglichkeiten für Studierende, aber auch für Forschende oder Mitarbeitende an Hochschulen um digitale Formate ergänzt. Was in der Erasmus-Individualförderung nicht möglich ist, ist die Förderung eines komplett virtuellen Austauschs vom Heimatland aus. Der Kern des Erasmus+ Programms ist ja nicht nur ein akademischer Austausch, sondern umfasst eben auch die interkulturellen Erfahrungen während eines Auslandsaufenthalts. Und die lassen sich digital so nicht abbilden.

Sehen Sie in dieser Flexibilität auch eine Chance, das Programm inklusiver zu machen, was ja ebenfalls zu den Zielen von Erasmus+ gehört?
Durch eine flexiblere Gestaltung mit digitalen Formaten und kürzeren Austauschzeiten wird ein Studienaustausch besser planbar und vielleicht auch leichter zu organisieren. Damit ist sie ein wichtiger Beitrag in Sachen Barrierefreiheit und Steigerung sozialer Teilhabe. Im Erasmus+ Programm gibt es außerdem schon länger die Möglichkeit, zusätzliche Fördermittel für Menschen mit Behinderung oder Eltern im Auslandsaufenthalt mit kleinen Kindern zu beantragen. Die Beträge dafür wurden noch mal erhöht. Auch individuelle Anträge können dabei gestellt werden, zum Beispiel für die Finanzierung einer persönlichen Assistenz vor Ort.

Ein weiteres wichtiges Thema, das in den vergangenen Jahren noch an Bedeutung gewonnen hat, ist Nachhaltigkeit. Gerade junge Menschen hinterfragen Reisen, lange Flüge und Konsum. Wie kann ein Studierendenaustausch möglichst klimaneutral und nachhaltig gestaltet werden?
Nachhaltigkeit ist ein erklärtes Ziel der Erasmus+ Programmgeneration 2021–2027. Deshalb wurden bei der Beantragung der European University Charta (ECHE) auch entsprechende Ziele in die Selbstverpflichtung der teilnehmenden Hochschulen aufgenommen. Darüber hinaus gibt es noch konkretere Maßnahmen wie Mobilitätsanreize für die Studierenden, die zum Beispiel per Bahn in den Austausch reisen. Wir bezuschussen nachhaltiges Reisen innerhalb Europas mit einer Mobilitätspauschale von 50 Euro pro Auslandsaufenthalt. Außerdem können bis zu vier zusätzliche Reisetage bei einer Förderung angerechnet werden. Auch für diese wird dann der normale Tagessatz eines Erasmus-Stipendiums ausgezahlt. Bisher gab es das nicht. Mit solchen kleinen und größeren Maßnahmen will Erasmus+ einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten.

Wann wird Erasmus+ in Ihren Augen erfolgreich sein?
Wenn wir weiterhin großen Zuspruch von Hochschulen und Studierenden bekommen, wenn wir weiterhin einen wichtigen Beitrag zum internationalen Austausch in Europa leisten können, wenn die neuen Programmideen gut angenommen werden. Und – dieser Punkt liegt mir besonders am Herzen – wenn wir die Ziele der Inklusion umsetzen können und es schaffen, mehr Menschen für einen Erasmus+ Aufenthalt zu begeistern, für die bisher ein solcher Austausch keine Option war.

Interview: Birk Grüling (12. November 2021)

Weitere Informationen

Die Europäische Kommission bietet den Hochschulen mit der neuen Programmgeneration zahlreiche Möglichkeiten, ihre europäische und internationale Vernetzung strategisch auszubauen. Dazu steht ein verdoppeltes Budget von über 28 Milliarden Euro zur Verfügung, mit dem weitere 10 Millionen Mobilitäten sowie eine große Bandbreite an Projekten in allen Bildungssektoren ermöglicht werden sollen. Unter dem Motto „Enriching lives, opening minds“ stärkt Erasmus+ die europaweite Zusammenarbeit in allen Bildungsbereichen. In verschiedenen Programmlinien haben deutsche Hochschulen die Möglichkeit, den internationalen Austausch ihrer Studierenden und ihres Hochschulpersonals zu fördern, Kooperations- und Partnerschaftsprogramme zu etablieren und einen weitreichenden institutionellen Austausch zwischen Hochschulen in Europa und weltweit zu nutzen.