Preisgekrönte Geschichtsforschung: DAAD-Alumnus James Retallack im Gespräch

Peter Dusek

James Retallack: Begeisterung für August Bebel

Das gibt es äußerst selten: Professor James Retallack hat die beiden bedeutenden Forschungspreise des Killam- und des Guggenheim-Stipendiums gleichzeitig erhalten. Der Historiker an der University of Toronto hat sich auf das Deutsche Kaiserreich spezialisiert – und damit auch auf die Parteienlandschaft vor 1918. Seine umfangreiche Forschung zu August Bebel und der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hat auch ganz aktuelle Bezüge.

Herr Professor Retallack, Sie erhielten kürzlich gleich zwei bedeutende Forschungspreise, das Killam- und das Guggenheim-Stipendium. Wofür werden Sie sie nutzen?

James Retallack: In den vergangenen 15 Jahren habe ich mich mit deutscher Wahlkultur und Wahlpolitik beschäftigt, speziell in Sachsen. Das Ergebnis wird Ende 2016 als Buch veröffentlicht. Im Laufe dieses Projekts habe ich mich für August Bebel begeistert, der in den 1860er-Jahren die sozialdemokratische Bewegung in Sachsen gründete und ja auch einer der Gründungsväter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ist. Bis zu seinem Tod 1913 blieb Bebel eine charismatische Schlüsselfigur, anhand derer sich das politische Leben Deutschlands in der Kaiserzeit verstehen und nachzeichnen lässt, auch die Spaltung zwischen Bürgerlichen und Arbeitern. In den drei vorlesungsfreien Jahren der Fellowships werde ich mich ganz auf mein Buch über Bebel konzentrieren. Es wird meine erste Biografie.

Ist Bebels Leben und Wirken nicht schon recht gut untersucht? Was gibt es noch zu entdecken?

Besonders interessant finde ich seine frühen Jahre, über die in bisherigen Biografien vergleichsweise wenig zu finden ist. Mir imponieren die moralische Kraft und Leidenschaft, mit der er gegen die Diskriminierung von Frauen, Juden und Einwohnern der damaligen Kolonien eintrat. Diese Emanzipationsstrategien und ihre Gegenkräfte will ich mit der Biografie analysieren. Wie kam es, dass ein modernes Kaiserreich politisch rückständig blieb und 1914 in den Ersten Weltkrieg flüchtete, anstatt konstitutionelle Reformen durchsetzen? Anders gefragt, wie gestaltet man den Übergang zur Demokratie? Das hat auch einen aktuellen Bezug, denken Sie nur an den so genannten Arabischen Frühling: Aus der Bewegung sind in den einzelnen Staaten teilweise Arabische Winter geworden.

Warum interessieren Sie sich als Kanadier überhaupt für deutsche Themen?

An der kanadischen Trent University, an der ich in den 1970er-Jahren mein Bachelorstudium absolvierte, lehrte ein Professor für deutsche und europäische Geschichte, der mich sehr beeindruckte: Stuart Robson. Von ihm habe ich nicht nur die Begeisterung für das Fach, er empfahl mich auch nach Oxford. Dort schrieb ich meine Doktorarbeit. Das war ideal: Ich hatte eine englischsprachige Ausgangsbasis, musste aber nur den Kanal überqueren, um in deutsche Bibliotheken zu kommen.

Wie viele meiner Kommilitonen hatte ich mich übrigens zunächst für den Nationalsozialismus interessiert. Aus wissenschaftlicher Sicht fand ich dann aber das Kaiserreich spannender, weil es nicht so gut erforscht war.

Wie stark haben Ihre Studienaufenthalte in Deutschland zu Ihrem wissenschaftlichen Erfolg beigetragen?

Am Anfang meiner Karriere war das besonders wichtig. Dem DAAD verdanke ich gleich drei Stipendien von jeweils einem Vierteljahr. Später bewarb ich mich auch für längere Forschungsaufenthalte. Mein Buch über Deutschland in der Ära Kaiser Wilhelms II. etwa wurde erst möglich durch die Alexander von Humboldt-Stiftung. Mitte der 1990er-Jahre konnte ich mit meiner Familie ein Jahr in einem Gästehaus der FU Berlin wohnen und in den Archiven von Berlin, Dresden und Leipzig forschen. Wegen einer lebenslangen Nervenkrankheit ging ich damals auf Krücken, seit sechs Jahren sitze ich im Rollstuhl. Der wiegt 120 Kilogramm, und Sie können sich vorstellen, dass das Reisen damit etwas beschwerlich ist. Deshalb bin ich ganz froh, dass bei meinem Forschungsprojekt über Bebel viele Quellen von Toronto aus zugänglich sind. Zudem arbeiten mir Doktoranden zu und recherchieren zum Beispiel im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn oder im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden.

Wie eng ist die Verbindung zwischen der Universität Toronto und dem DAAD ?

Ich habe geholfen, an der Munk School of Global Affairs die Joint Initiative in German and European Studies zu gründen, mit der vom DAAD gestifteten Hannah-Arendt-Gastprofessur. In diesem Jahr kommt Cornelius Torp, Historiker aus Augsburg. Es gibt Workshops, Konferenzen, Besuchs- und Förderprogramme und sogar eine Deutsch-Europäische Schriftenreihe im Verlag University of Toronto Press. Der lebendige und fruchtbare Austausch ist für die Studenten ein großer Gewinn.

Interview: Christine Mattauch (21. August 2015)