Facettenreich und vielstimmig

Krzysztof Zielinski

Zeena Parkins stellte sich im "Hamburger Bahnhof" auch mit einer Live-Improvisation vor, bei der sie der Schlagzeuger Tony Buck begleitete

Ein Abend in Berlin für den Austausch mit der Welt der Kunst: Im Hamburger Bahnhof wurden die 19 neuen Gäste des Berliner Künstlerprogramms des DAAD vorgestellt.

Die meisten deutschen Bühnen beginnen ihre neue Spielzeit mit einem Theaterfest mit Kostproben kommender Produktionen. Diesen bewährten Brauch hatte das Berliner Künstlerprogramm (BKP) des DAAD 2009 erstmals übernommen: Unter dem Titel „Vorhang auf...“ präsentierte es am Dienstagabend bereits zum fünften Mal in Berlin die Gäste des aktuellen Jahres, darunter ein Künstler-Paar, mit einer öffentlichen Veranstaltung. Die Französin Marie Cool und der Italiener Fabio Balducci sind mit gemeinsam entwickelten, von Cool vorgetragenen Gesten bekannt geworden – und regen damit auch zu Vergleichen mit der Arte Povera an. Im Hamburger Bahnhof präsentierte Cool eine bedächtige Choreografie, strich Papierbögen glatt und zog Klebestreifen von einem Tisch. Von den 19 neuen BKP-Gästen traten auch der südafrikanische Dichter Charl-Pierre Naudé und die US-amerikanische Harfenistin Zeena Parkins, begleitet von dem Schlagzeuger Tony Buck, in dem renommierten Museum für Gegenwartskunst vor den zahlreichen Besuchern des Abends auf. Erstmals stellte das BKP darüber hinaus seine 2014er-Gäste in den vier Sparten Literatur, Musik, Film und Bildende Kunst mit Filmporträts vor, die in einer Installation auf neun Monitoren den ganzen Abend über in Loops anzusehen waren.

Als „Juwel unter den Förderprogrammen“ hob DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel den herausragenden Rang des BKP hervor: Ausländische Künstler folgten gern dem Ruf in die Hauptstadt, um hier die „Haute Couture der Betreuung“ zu genießen. Anders als bei vergleichbaren Austauschprogrammen erfolgt die Einladung ohne Verpflichtungen; die Gäste dürfen ihren Aufenthalt frei gestalten. Dabei unterstützt sie das Team um BKP-Leiterin Katharina Narbutovič, das den Künstlern die Eingewöhnung und Orientierung in Berlin erleichtert und gemeinsam mit ihnen Veranstaltungen organisiert.

Nachhaltiger, preiswürdiger Austausch

Das lässt viele Gäste länger als ein Jahr in der Stadt heimisch werden, wie Wintermantel betonte: So war etwa der ungarische Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész 1993 Gast des BKP; von 2001 bis 2012 ließ er sich dauerhaft in Berlin nieder. 2012 lud das BKP den Regisseur Sebastián Lelio aus Chile ein; im Jahr darauf gewann sein Film „Gloria“ auf der Berlinale einen Silbernen Bären. Dessen Titelheldin geht gern in Tanzlokale – und Lelio eröffnete wenig später das Restaurant „Gloria“ in Kreuzberg.

Für solche ausgefallenen Ideen sei Berlin der richtige Ort, ergänzte Andreas Görgen, Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt: „So viele Träume wie das BKP hat noch kein anderes Programm nach Deutschland geholt.“ Damit leiste es auch einen wertvollen Beitrag zur Konfliktverhütung und -bewältigung, so Görgen: Aktuelle internationale Krisen zeigten, wie sehr weltweit die Fähigkeit fehle, auf Wünsche und Hoffnungen von Menschen aus anderen Kulturen einzugehen.

Wandler zwischen den Welten

Eine Ursache dafür machte BKP-Leiterin Katharina Narbutovič im paradoxen Effekt der Globalisierung aus: Je mehr sich das Angebot in Metropolen angleiche – überall dieselben Handelsketten und Produkte –, umso geringer werde „die Bereitschaft, sich etwas substanziell Anderem auszusetzen“. Dagegen wolle das BKP „die Vielfalt der Welt abbilden“: insbesondere durch Einladungen auch an nichtwestliche Künstler und solche, die in mehreren Kulturen verwurzelt sind. „Die Welt kann nur mit Facettenaugen erfasst werden“, folgerte Narbutovič mit einer Formulierung des somalischen Schriftstellers Nuruddin Farah, BKP-Gast des Jahres 1990.

Ein solcher Wandler zwischen den Welten ist Ho Tzu Nyen, neuer BKP-Gast der Sparte Bildende Kunst. Er fühle sich in keiner Sprache wirklich zuhause, sagt er: Geboren 1957 in Singapur, geht er in seinen Filmen oft den Spuren nach, die Eroberer und Einwanderer im Schmelztiegel seiner Heimatstadt hinterlassen haben. Mit feinem Gespür für kulturelle Differenzen: In der europäischen Kunst stünden Wolken meist für das Erscheinen des Heiligen, etwa von Gott oder Engeln, bemerkt Ho. In Chinas Tuschemalerei bezeichneten sie hingegen eine Leerstelle – weiße Auslassungen zwischen Pinselstrichen.

Berliner Feldforschungen

Alle BKP-Gäste kamen auf Monitoren persönlich zu Wort. Etwa der algerische Schriftsteller Malek Alloula, ebenfalls ein Grenzgänger: Er zog in den 1960er-Jahren nach Paris, wo er noch heute lebt. Seine Werke analysieren detailliert die häufig fatale Verquickung von algerischer Kultur und französischem Kolonialeinfluss. Vermischung von Kulturen geschieht auch alltäglich. Der Nigerianer Emeka Ogboh ist für Klang-Installationen bekannt, in denen er Straßengeräusche aus Lagos kombiniert: Hier leben Leute aus allen Landesteilen miteinander. Vor seiner Reise nach Berlin fragte er sich, wie er aus Nigeria gewohnte Kost auftreiben könne, erzählt er im Video-Interview: Als BKP-Gast will er Feldforschung über afrikanische Restaurants in Deutschland betreiben.

Die vom BKP angestrebte Vielstimmigkeit machte der südafrikanische Dichter Charl-Pierre Naudé anschaulich. Der Hugenotten-Nachfahre schreibt auf Afrikaans, trug aber bei seinem Auftritt im Hamburger Bahnhof eigene Übertragungen ins Englische vor, während auf der Leinwand die deutsche Übersetzung zu lesen war. Seine Verse handelten vom Zusammenprall des Unvereinbaren: etwa seltsame Riten einer vermeintlichen Sekte, die sich als Entführung und Hinrichtung entpuppen. Oder Hände als Dekor in einem belgischen Museum, die an blutige Kolonial-Praktiken im Kongo gemahnen. Es waren durchaus drastische Bilder, die Naudé mit seinen Versen hervorrief. Aber sie standen zugleich ganz grundsätzlich für den Anspruch des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, Dialog und Austausch hervorzurufen – gerade auch dort, wo dieses mitunter nicht möglich scheint.

Oliver Heilwagen (3. September 2014)

Weitere Informationen

Die neuen Gäste des Berliner Künstlerprogramms des DAAD

Bildende Kunst: Chitti Kasemkitvatana [Thailand], Marie Cool Fabio Balducci [Frankreich/Italien], Emeka Ogboh [Nigeria], Ho Tzu Nyen [Singapur], Wendelien van Oldenborgh [Niederlande], Zhou Xiaohu [VR China]

Literatur: Malek Alloula [Algerien], Anneke Brassinga [Niederlande], John Burnside [Großbritannien], Gail Jones [Australien], Afrizal Malna [Indonesien], Charl-Pierre Naudé [Südafrika]

Musik: Osvaldo Budón [Argentinien/Uruguay], Konrad Korabiewski [Dänemark/Polen], Zeena Parkins [USA], Michael Pelzel [Schweiz]

Film: Bence Fliegauf [Ungarn], Salomé Lamas [Portugal], Helvécio Marins [Brasilien]

Weiterführender Link

Berliner Künstlerprogramm des DAAD