"Man liebt in Deutschland die Abweichung"

Jenny Wolf

Komponist Fabien Lévy

Wenn am 16. März in Berlin ein Konzert des Festivals MaerzMusik gespielt wird, ist auch seine Musik mit dabei: Fabien Lévy kam einst als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms in die deutsche Hauptstadt und ist inzwischen als Professor für Komposition in Detmold sogar deutscher Beamter. Porträt eines Franzosen, dessen Verhältnis zu Deutschland immer ein besonderes war.

2001 kommt ein französischer Komponist, 33 Jahre alt, aus Paris nach Berlin, in der Tasche ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und – ein Bändchen mit einem 1980 entstandenen Briefwechsel. Vladimir Jankélévitch, ein französischer Philosoph jüdischen Glaubens, und Wiard Raveling, ein deutscher Gymnasiallehrer, tasten sich darin an die Vergangenheit heran. Es geht um den Holocaust, die Schuld der Deutschen und die Frage, ob ein Vergeben möglich oder überhaupt nur denkbar ist. Nicht ganz zufällig ist diese Konversation mit auf die Reise gelangt. Für Fabien Lévy, den jungen Komponisten aus Frankreich, ist das Thema mehr als nur interessante Historie. Es betrifft auch seine eigene Biografie. Irgendwann, das spürt er, wird daraus ein Musikstück entstehen. Was er nicht weiß: Berlin wird seine neue Heimat werden.

Lévy schrieb das Stück einige Jahre später; für sechs Vokalsolisten, Kammerensemble und Zuspielband. Er gab ihm den Titel „Après tout“. Das bedeutet so viel wie „Nach allem“, aber auch „Trotz allem“. 2013 erlebte es seine Uraufführung beim Berliner Festival „Ultraschall“, im Februar 2014 seine französische Erstaufführung beim Festival „Présences“ in der Maison de Radio France in Paris. Das Stück hätte kaum besser platziert werden können als hier, trug das Festival doch das Motto „Paris – Berlin, les soeurs amies“.

Flucht aus Nazi-Deutschland

Ein beflissenes und engagiertes Versöhnungsstück ist „Après tout“ allerdings nicht. Lévy hat das Thema mit Textpassagen aus der Bibel über Nietzsche bis Celan ins Allgemeine erweitert; er präsentiert keine Moral, sondern eine vielstimmige, nachdenkliche Meditation. Dabei hat Deutschland in seiner Biografie immer eine besondere Rolle gespielt. „Meine Beziehung und die meiner Familie zu Deutschland war immer eine besondere“, erzählt er am Rande des Festivals, „voll von Projektionen, von Liebe, von Hass und von Fragen“. Lévys Großmutter mütterlicherseits, geboren in Köln, musste 1933 im Alter von 13 Jahren Nazi-Deutschland verlassen und fand bei einer weit entfernten Verwandten in Frankreich Zuflucht. Lévys Eltern wurden als Kinder auf dem Land versteckt. Trotzdem nahm die Familie nach Ende des Krieges Kontakt zum Nachbarland wieder auf: Man reiste nach Deutschland, die Kinder lernten Deutsch.

Die unversöhnliche Haltung von Jankélévitch, der es nach dem Krieg ablehnte, sich in irgendeiner Weise mit deutscher Kunst und Kultur zu beschäftigen, „habe ich nie verstanden“, bekennt Lévy. Was ihn nicht hinderte, sich von Jankélévitch‘ Philosophie, die in großen Teilen eine Musikphilosophie ist, inspirieren zu lassen. Insbesondere dessen Gedanken zum Unbestimmten („presque rien et un je ne sais quoi“) als Wesen von Musik haben ihn fasziniert. „Man hört etwas, ist gefesselt, man will weiterhören, weiß aber nicht genau, was es eigentlich ist“ – dieser Prozess macht für Lévy Musik aus.

Die Lust an der Differenz

Der Vorschlag, Lévy möge sich für das Berliner Künstlerprogramm bewerben, kam von Gérard Grisey, Zentralfigur der französischen Gruppe der „Spektralisten“ und Lévys Kompositionslehrer in Paris. Das einjährige Stipendium umfasst ein monatliches Salär und die Bereitstellung einer Wohnung, darüber hinaus Unterstützung, um in der Berliner Kunstszene fruchtbar zu wirken. 1963 wurde das Programm von der Ford Foundation gegründet und 1964 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) übernommen. Seitdem haben über 1000 ausländische Künstlerinnen und Künstler aus den Sparten Bildende Kunst, Literatur, Musik, Film sowie Tanz und Performance in Berlin gelebt und gearbeitet. Für ihn sei der Aufenthalt in Berlin „sehr bereichernd“, gewesen, erzählt Lévy. „Es hat mir erlaubt, mich und meine kulturellen Wurzeln zu verstehen und nicht zuletzt, mich zu befreien.“ Deshalb blieb er in Berlin – auch nach dem Ende seines Stipendiums, bis zum heutigen Tag.

Die Deutschen, das harmoniesüchtige und kompromissverliebte Volk? Lévy erlebt es anders. Ihn inspiriert im Land Goethes die Lust an der Differenz. „Man liebt in Deutschland die Abweichung“, erklärte er, „die zweiten in der Klasse“. Eine kleine Spitze gegen den Bestnoten-Fetischismus und das Elitedenken in Frankreich. Hinzu komme eine ausgeprägte Bereitschaft, „die musikalischen Sprachen und Kategorien in Frage zu stellen“. Derart produktive ästhetische Debatten und Polemiken vermisst Lévy in Frankreich, wo man seiner Ansicht nach viel zu sehr an vermeintlichen Lichtgestalten orientiert ist.

Hilfe zur Selbsthilfe in der Kompositionslehre

Seit letztem Jahr ist er sogar deutscher Beamter – als Professor für Komposition an der Musikhochschule Detmold. „Ich musste einen Eid auf das Land Nordrhein-Westfalen schwören – das war schon etwas Besonderes.“ Nicht zuletzt, weil NRW das Land ist, aus dem seine Großmutter stammt. Seinen Studenten bringt er kompositorisches Handwerk bei: Orchestrierung, Harmonik, Formgefühl, neue Technologien. Dabei ist ihm klar, dass Komponieren nicht wirklich lehrbar ist. Er versucht vielmehr, Hilfe zu geben, sich selbst zu entwickeln: „Das grenzt manchmal an Psychoanalyse.“ Doch Lévy lernt auch selbst noch hinzu: „Man spricht hier, anders als in Frankreich, viel mehr über philosophische Fragen und Probleme des Formaufbaus – seitdem höre ich zum Beispiel Beethoven ganz anders.“

Mathias Nofze (4. März 2014)