„Die Rolle der Universitäten in Bezug auf kritisches Denken ist wichtiger denn je“

Peter Jost/DAAD

Dr. Jamil Salmi ist ein internationaler Experte und Berater für tertiäre Bildung. 

Was ihnen ihre Förderung durch den DAAD bedeutet, haben viele DAAD-Alumnae und -Alumni seit Anfang Juli unter #IgotFundedByDAAD auf Twitter geteilt – ein DAAD-Alumnus hatte den Hashtag initiiert, inzwischen finden sich dort dazu mehr als 1.800 Tweets. In ausführlicheren Statements haben ehemalige Geförderte auch in einer DAAD-Aktuell-Serie zum Ausdruck gebracht, wie ein Stipendium des DAAD ihren Berufs- und Lebensweg beeinflusst hat. Lesen Sie zum Abschluss dieser Serie einen Beitrag von Dr. Jamil Salmi. Er ist globaler Experte für tertiäre Bildung und berät seit mehr als 25 Jahren weltweit Regierungen, Universitäten und andere Organisationen. Mit DAAD Aktuell sprach er über die Bedeutung des internationalen wissenschaftlichen Austauschs und die Rolle von Universitäten im Rahmen der aktuellen Krisen.

Meine persönliche und berufliche Erfahrung ist, dass ein Auslandsstipendium das eigene Leben verändert. Nicht nur wegen der fachlichen Ausbildung und der intellektuellen Erfahrung, sondern auch wegen der Erfahrung, in einem anderen Land zu leben, eine andere Einrichtung zu besuchen und anderen Menschen zu begegnen. Wenn man heute Universitäten besucht, trifft man nicht nur heimische Studierende, sondern auch Studierende aus vielen anderen Ländern und manchmal sogar internationale Professorinnen und Professoren. Das öffnet wirklich den Horizont. Man lernt, toleranter zu sein, andere Kulturen zu schätzen, und man lernt auch etwas über seine eigene Kultur, was sehr positiv ist.

Aber darüber hinaus ist es wichtig, dass man über den eigenen Beitrag nachdenkt, wenn man in sein Heimatland zurückkehrt. Und da gibt es eine Sache, die mir beim DAAD immer sehr positiv aufgefallen ist im Vergleich zu anderen bilateralen Geberorganisationen: Seit vielen Jahrzehnten ist der DAAD sehr darauf bedacht, dass Studierende und Fachkräfte, die in ihr Land zurückkehren, es nicht nur als Individuen tun, sondern dass der DAAD auch die institutionellen Auswirkungen berücksichtigt, die dies haben könnte. So können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit neuem Wissen und neuer Erfahrung zurückkehren, sich wiederum beim DAAD um Förderung bemühen, um das anzuwenden, was sie gelernt haben. Sie arbeiten nicht isoliert, sondern können weiterhin mit der Forschung und den früheren Betreuerinnen und Betreuern kooperieren.

Ich habe das Gefühl, dass die DAAD-Alumnae und -Alumni innerhalb eines Landes über ein starkes Netzwerk verfügen, was ebenfalls sehr hilfreich ist, um berufliche Ziele zu verfolgen und Projekte im eigenen Land durchzuführen, über die eigene Person oder die eigene Institution hinaus. Und während der Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig diese Netzwerke sind, innerhalb der Länder, aber auch international. Sie haben den Menschen geholfen, die vielen Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen, sowohl in persönlicher als auch in beruflicher Hinsicht. Diese Netzwerke erhielten sie nicht nur in der Lehre oder der Forschung aufrecht, sondern auch bei der Suche nach Lösungen in einem anderen beruflichen Umfeld als dem der Wissenschaft.

Angesichts von Krisen ist es einfach, reflexartig die Schuld auf andere zu schieben und sich in die Isolation zurückzuziehen. Aber die Rolle der Universitäten in Bezug auf kritisches Denken ist heutzutage noch viel wichtiger denn je. Ich sehe es in den USA in Form von politischer Polarisation, ich sehe es im Vereinigten Königreich in Form von Isolationismus als einem Ergebnis des Brexit, und wir haben es während der Pandemie erlebt: Es gibt eine Ablehnung der Wissenschaft, eine Ablehnung von Beweisen und eine Unfähigkeit, zwischen Fake News oder Verschwörungstheorien und der Wahrheit zu unterscheiden. Umso wichtiger ist es heute, an einer Universität zu studieren, wo man mit kritischem Denken, Problemlösung und wissenschaftlicher Forschung konfrontiert wird. Unserem Planeten geht es heute wirklich sehr schlecht, in einer Weise, wie sie vielleicht zuletzt unsere Eltern oder Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt haben, ganz zu schweigen vom Klimawandel. Es gibt so viel, dem wir uns stellen müssen. Und wissenschaftliches, professionelles Denken und Ethik sind auch Teil der Erfahrung eines Auslandsstudiums.

Eine der Herausforderungen, die ich in vielen Ländern erlebt habe, ist eine feindselige Reaktion gegenüber Akademikerinnen und Akademikern, die sich in die öffentliche Politik einmischen wollen. Kultur und Wissenschaft sind jedoch sehr wichtig, damit die Gesellschaft erkennt, wie unverzichtbar es ist, Universitäten zu haben. Die Freie Universität Berlin zum Beispiel ist sehr präsent in der Stadt Berlin und der Gesellschaft in Form von öffentlichen Vorlesungen, ihren Museen oder dem Botanischen Garten. Sie ist ein Beispiel für die sehr wichtige Rolle, die Universitäten spielen. Hochschulen sollten nicht sagen: „Seht her, wie großartig ich bin“, sondern eher: „Hier ist, was ich zur Gesellschaft beitragen kann.“ Die McGill-Universität in Kanada beispielsweise veranstaltet seit vielen Jahren eine Wissenschaftswoche für die Öffentlichkeit, um wissenschaftliche Ideen auf unterhaltsame Weise zu verbreiten. Das ist eine sehr wichtige Funktion, die die Universitäten übernehmen können. Einige tun das bereits, und andere sollten sich daran ein Beispiel nehmen, um die Öffentlichkeit zu erreichen, um uns an den Fortschritt von Kultur, Wissenschaft und Wissen zu erinnern.

In vielen Ländern habe ich die Auswirkungen von COVID-19 auf die Universitäten beobachtet, und ich denke, dass die Universitäten stolz darauf sein können, da sie der Gesellschaft wirklich geholfen haben: nicht nur mit der Herstellung von Geräten und Tests oder indem sie die Impfstoffforschung unterstützten, sondern auch, indem sie erklärten, was da vor sich ging. Es ist sehr wichtig, dass wir ehrlich sind in Bezug auf das, was wir wissen. Und das ist heikel, denn die Öffentlichkeit wird sagen: „Wenn ihr nichts wisst, vertrauen wir euch nicht.“ Man muss also mit Entschlossenheit sprechen, aber auch ehrlich sagen, was man weiß und was man nicht weiß, und erklären, warum es Unsicherheiten gibt. Und wir müssen akzeptieren, dass es in der heutigen Welt viel mehr Ungewissheit gibt – die Welt ist viel komplexer geworden. Was derzeit geschieht, lässt sich sehr gut mit dem Begriff VUCA beschreiben: Vulnerability, Uncertainty, Complexity, Ambiguity. Es ist ein Konzept, das Politikwissenschaftler nach dem Kalten Krieg verwendet haben, das aber auch heute noch sehr aktuell ist.

Jeder möchte zu normalen Zeiten zurückkehren, aber dies sind jetzt die normalen Zeiten – sie sind viel komplizierter und herausfordernder, und die Universitäten müssen in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Dabei geht es nicht nur um die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und den Menschen, die an diesen Universitäten arbeiten, sondern auch um die Zusammenarbeit der Universitäten mit ihrem Umfeld. Die stärkere Einbindung von Stadtverwaltungen, Gemeinden, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen ist wichtiger denn je.

Jamil Salmi (6. Dezember 2022)

Zur Person

Dr. Jamil Salmi ist globaler Experte für tertiäre Bildung, der Regierungen, Universitäten und Entwicklungsorganisationen berät und über Erfahrungen in mehr als 105 Ländern verfügt.