„Forschende gehören zu den Vielfliegenden“

Privat

Dr. Susann Görlinger hat sich der Reduktion von Flugemissionen im akademischen Bereich verschrieben.

Das Projekt FlyingLess hilft akademischen Institutionen dabei, ihre Flugemissionen zu reduzieren und Klimaneutralität zu erreichen. Wie das gelingen kann, ohne den wissenschaftlichen Austausch allgemein und die Karrierechancen junger Forschender einzuschränken, untersucht Dr. Susann Görlinger. Sie leitet das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderte Projekt FlyingLess.

Frau Dr. Görlinger, warum ist die Reduktion von Flugreisen im akademischen Bereich aus Ihrer Sicht so relevant? Stellen diese Flugreisen im Vergleich zum gesamten Flugverkehr weltweit nicht ohnehin einen verschwindend geringen Anteil dar?
Flugreisen verursachen häufig zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtemissionen einer Organisation. Auch bei akademischen Institutionen machen sie einen wesentlichen Teil der Treibhausgasemissionen aus. An der ETH Zürich beispielsweise werden mehr als die Hälfte der gesamten Treibhausgasausstöße durch Flugreisen verursacht, und davon rund 90 Prozent durch Langstreckenflüge. Das ist ein großes Problem für das Erreichen der Klimaziele. Verschiedene Studien in den letzten Jahren haben außerdem gezeigt, dass Fliegen sehr ungleich verteilt ist – nur ein Prozent der Weltbevölkerung verursacht 50 Prozent der Flugemissionen. Und Forschende gehören dabei zu den Vielfliegenden.

Hochschulen und Forschungsinstitutionen als gesellschaftliche Akteure spielen zudem eine besondere Rolle, da sie öffentliche Gelder erhalten und außerdem Studierende und den wissenschaftlichen Nachwuchs ausbilden. Indem sie ihre eigenen Emissionen reduzieren, nehmen sie ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr, erfüllen die politischen Vorgaben und leisten einen sichtbaren Beitrag zum Klimaschutz. Dabei sollen aber der wissenschaftliche Austausch, der ja essenziell ist, nicht eingeschränkt und die wissenschaftliche Exzellenz sowie die Karrierechancen der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nicht gefährdet werden. Vielmehr sollte der Austausch anders gedacht und mit anderen Mitteln realisiert werden. 

Wir haben während der Coronapandemie gesehen, dass sich vieles, wenn auch nicht alles, virtuell machen lässt. Wenn man sich zudem überlegt, welche Treffen in Präsenz wirklich nötig sind, und diese beispielsweise virtuell vorbereitet, kann man einige Flugreisen sparen. Virtuelle Meetings können auch inklusiver sein, da Forschende mit geringen finanziellen Ressourcen oder mit Betreuungsaufgaben einfacher teilnehmen können. 

Welche Ziele hat das Projekt FlyingLess genau, und wie wird bei der Umsetzung dieser Ziele konkret vorgegangen? Können sich alle deutschen Hochschulen bei Interesse an dem Projekt beteiligen?
FlyingLess hat das Ziel, akademische Institutionen bei der Reduktion ihrer Flugemissionen zu unterstützen und den Weg in Richtung Klimaneutralität beziehungsweise Netto-Null zu weisen, ohne die Exzellenz in Forschung und Lehre und die Karrierechancen des Nachwuchses zu gefährden. Darüber hinaus versuchen wir, eine Transformation zu einem nachhaltigeren Wissenschaftssystem anzuregen.

FlyingLess entwickelt Tools, zum Beispiel ein Monitoringsystem für die Flugemissionen, sowie Factsheets und Guidelines, die auf unserer Website www.flyingless.de allen zur Verfügung stehen. Hierbei arbeiten wir primär mit vier Partnerinstitutionen zusammen: den beiden Universitäten in Konstanz und Potsdam sowie zwei außeruniversitären Forschungseinrichtungen, dem European Molecular Biology Laboratory und dem Max-Planck-Institut für Astronomie. Weitere interessierte Hochschulen und Forschungsorganisationen können sich jedoch als sogenannte Satelliten anschließen. Wir haben bei den vier Partnern Interviews und Umfragen durchgeführt – mit der Leitungsebene, Professorinnen und Professoren, Promovierenden und Postdocs, Verwaltungsmitarbeitenden und Studierenden – und nutzen mit den Partnern die Ergebnisse für die Weiterentwicklung des Themas und der Aktivitäten von FlyingLess. Die Umfragen wiederholen wir jährlich, um so ein Bild davon zu bekommen, wie sich das Thema in der jeweiligen Organisation wie auch allgemein verändert und welche Maßnahmen sinnvoll sind. Wir entwickeln außerdem gerade ein modulares Konzept nach dem Motto „Train the Organisation“. Hiermit wollen wir für die wesentlichen Aspekte der Reduktion von Flugreisen im akademischen Bereich Materialien und Methoden zur Verfügung stellen, um das Thema in der eigenen Organisation angehen zu können. Mit den Partnern vor Ort und später virtuell mit den „Satelliten“ werden wir Trainings-Workshops zu den Modulen durchführen. Diese Module werden später auf der Website als eine Art Baukasten allen zur Verfügung stehen.

Sie haben zuvor auch schon an der ETH Zürich das Projekt „Stay grounded, keep connected“ initiiert und geleitet. Auf der Basis Ihrer Erfahrungen aus diesem Projekt: Welche „Dos and Don’ts“ sollten deutsche Hochschulen bei solchen Projekten in erster Linie berücksichtigen?
Die Mischung aus Top-down und Bottom-up, die wir an der ETH Zürich gewählt hatten, ist aus meiner Sicht nach wie vor ein guter Ansatz. Zum einen ist die Unterstützung durch die Leitungsebene essenziell. Sie hat die Verantwortung, strategische Themen wie den Klimaschutz – und in diesem Zusammenhang eben auch die Reduktion der Flugemissionen – vorzugeben und ihre Umsetzung zu ermöglichen. Dazu braucht es Ressourcen, Strukturen und veränderte Rahmenbedingungen.

Bottum-up, also ein partizipativer Ansatz, ist ebenfalls sehr wichtig. Reiseentscheidungen werden durch einzelne Personen individuell getroffen. Diese müssen deshalb von der Notwendigkeit der Reduktion überzeugt sein und sich einbringen können, damit das Ziel erreicht werden kann. Engagierte Menschen können viel bewegen, sie müssen jedoch ausreichend unterstützt werden. Dafür ist auch die kontinuierliche Kommunikation innerhalb der Institutionen – auch durch die Leitung – wichtig, damit das Ganze nicht versandet. Das Thema ist jedoch eine große Herausforderung für den akademischen Bereich, da es in einem kompetitiven Umfeld eine Verhaltensänderung aller Beteiligten sowie langfristig einen Wertewandel des Wissenschaftsbetriebs anstrebt. Dabei wird Neuland betreten, man kann sich also auf keine Vorbilder berufen. Deshalb ist ein Projekt wie FlyingLess aus meiner Sicht auch so wichtig, weil dann nicht mehr jede Hochschule für sich alleine kämpft und alle Beteiligten von den Erfahrungen der anderen profitieren können.

(8. September 2022)

Zur Person

Dr. Susann Görlinger beschäftigt sich seit 2016 mit dem Thema Reduktion der Flugemissionen im akademischen Bereich. Sie hat das Flugreisenprojekt der ETH Zürich entwickelt, aufgebaut und bis Herbst 2021geleitet. Seit Oktober 2021 leitet sie das Projekt FlyingLess. Es wird für drei Jahre vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative gefördert und vom Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg gGmbH (ifeu) in Zusammenarbeit mit Dr. Nicole Aeschbach vom TdLab Geographie am Geographischen Institut der Universität Heidelberg koordiniert.

Über das Projekt FlyingLess

Mit der Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung haben auch die Flugreisen der Hochschulangehörigen zugenommen – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehören zu den Vielfliegenden. Ziel des Projekts FlyingLess ist es, Hochschulen und Forschungsorganisationen bei der Reduktion von Flugreisen, die einen wesentlichen Teil ihrer gesamten Treibhausgasemissionen verursachen, zu unterstützen. FlyingLess entwickelt dabei Ansätze zur Reduktion von Flugreisen im akademischen Bereich, die auf verschiedenen Ebenen (Forschung, Lehre und Verwaltung) umgesetzt werden. Das Projekt wird in enger Zusammenarbeit mit vier Pilotinstitutionen durchgeführt: den Universitäten Konstanz und Potsdam sowie dem EMBL (European Molecular Biology Laboratory) und dem MPI Astronomie in Heidelberg als außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Weitere Informationen finden sich auf der FlyingLess-Website.