Leibniz-Preis für DAAD-Alumna: Professorin Karen Radner im Porträt

LMU München

Die Altorientalistin und DAAD-Alumna Prof. Dr. Karen Radner.

International herausragende Forschungen: Karen Radner, Professorin für Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wird mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2022 für ihre weltweit einflussreiche Pionierarbeit bei der Erschließung assyrischer Quellen ausgezeichnet.

Wie jugendliche Begeisterung für ein Thema ins wissenschaftliche Berufsleben transportiert werden und zu bedeutenden Pionierleistungen beitragen kann, zeigt Professorin Karen Radner. Die 50-jährige Inhaberin der Alexander von Humboldt-Professur für die „Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens“ lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und wird nun für ihre einflussreichen Forschungen und Entdeckungen vor allem über das assyrische Großreich im ersten Jahrtausend vor Christus geehrt. 

Radners Forschungen, die auf archäologischer Feldarbeit und vor allem auf der Erschließung von Keilschrift-Tontafeln basieren, zeigen eindrucksvoll, dass die Beziehung zwischen Orient und Okzident viel einflussreicher ist, als wir bisher dachten und die meisten Menschen ahnen.

Der monotheistische Gott: ein assyrisches Konzept 
Zivilisationen bauen aufeinander auf. Nicht nur die Einführung des Haushuhns als Lieferant für Fleisch und Eier sowie der Weinkonsum konnten sich über das assyrische Königreich weiter nach Westen verbreiten – vom Mittelmeer über den heutigen Sudan im Nordosten Afrikas bis zum Persischen Golf und zum Kaukasus – auch in den Grundfesten der abendländischen Zivilisationen haben assyrische Konzepte ihre Spuren hinterlassen. „Die Vorstellung des monotheistischen Gottes der Bibel, wie sie sich gegen Ende der neuassyrischen Periode herausbildete, war der Konzeption des Königs von Assyrien nachempfunden“, betont Prof. Dr. Radner. Denn er sei ein „Herrscher ohne Gleichen“ gewesen und habe seine Untertanen mit Verträgen an sich gebunden.  

Die erstmalige Ausdehnung eines Herrschaftsbereichs über zwei Kontinente förderte zudem eine revolutionäre Infrastruktur, wie die Wissenschaftlerin am Beispiel des Postwesens zeigen konnte. Am University College London, wo sie zwischen 2005 und 2015 lehrte, leitete die gebürtige Österreicherin ein vom britischen Arts and Humanities Research Council finanziertes Forschungsprojekt, das die Mechanismen der Kommunikation und insbesondere die Rolle der Fernkommunikation im assyrischen Reich untersuchte. 

Untersuchung von Keilschriften als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Karriere
Ihren ersten – und nachhaltigsten – Schritt ins Ausland machte Karen Radner aber bereits während ihres letzten Studienjahrs. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihr 1993/94 nicht nur den Wechsel von ihrer Heimatuniversität in Wien an die FU Berlin, sondern auch das Volontariat im Vorderasiatischen Museum, wo sie an der Inventarisierung der Keilschrifttexte aus Assur beteiligt war.  

„Ohne jede Übertreibung hat diese Zeit das Fundament für meine wissenschaftliche Karriere gelegt“, sagt die Forscherin heute. „Nicht nur hat sich daraus unmittelbar das Thema meiner Magisterarbeit ergeben, sondern ich habe enge Kontakte zum Ausgrabungsteam der alten Stadt Dur-Katlimmu in Syrien geknüpft, wo ich dann für viele Jahre als Grabungsphilologin selbst beteiligt war.“

Feldforschung im Irak 
Der Leibniz-Preis bietet Karen Radner Flexibilität und wissenschaftliche Freiheit, die gerade für die Feldforschung im Mittleren Osten ein „großartiges Geschenk“ ist, wie sie sagt. „Ich habe kürzlich in Bagdad zusammen mit meinem langjährigen Forschungspartner Janoscha Kreppner von der WWU Münster die Ausgrabungslizenz für Assur erhalten, wo wir in den nächsten Jahren die Neustadt aus dem 9. bis 7. Jahrhundert vor Christus ausgraben werden.“ Seit 2010 ist die Forscherin hauptsächlich im Irak tätig, seit 2015 leitet sie dort ein Ausgrabungsprojekt in der Peshdar-Ebene. Mit der neuen Ausgrabungslizenz kehrt Karen Radner zu einem Thema zurück, mit dem sie sich während ihrer Zeit als DAAD-Stipendiatin beschäftigte. „So zeigt sich erneut, wie wichtig und prägend der vom DAAD geförderte Aufenthalt und die daraus entstandenen Kontakte für mich bis heute sind“, betont sie. 
 
Bereits ihre nach dem Aufenthalt an der FU Berlin im Jahr 1997 publizierte Wiener Dissertation über neuassyrische Privatrechtsurkunden gilt als Pionierarbeit für die Erschließung assyrischer Quellen, ebenso ihre Münchner Habilitationsschrift „Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung“, die sie 2005 veröffentlichte. 

Ein entscheidender Antrieb: die Freude am Entdecken
Kombiniert mit ihrer beständigen Entdeckerlust in der Feldforschung machten ihre Veröffentlichungen zu assyrischen Textquellen und zur Keilschriftkunde Karen Radner zu einer Ausnahmepersönlichkeit in ihrem Fachgebiet. Diese kaum vergleichbare Position wurde 2015 mit der Alexander von Humboldt-Professur ausgezeichnet, die sie im selben Jahr an der LMU München antrat. Dieser vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte höchstdotierte deutsche Wissenschaftspreis wird ausschließlich an Spitzenforscherinnen und -forscher verliehen, die in ihrem Fachgebiet weltweit führend sowie im Ausland tätig sind.

Die Freude am Entdecken ist und bleibt trotz ihrer jahrelangen Expertise weiterhin ein entscheidender Antrieb für Karen Radner. Ausgrabungsstellen sind für sie eine ganz spezielle Sphäre. Was aber fühlt man als Altertumswissenschaftlerin in dem Moment, in dem man Überreste menschlicher Aktivitäten freilegt, die tausende Jahre in der Vergangenheit liegen? „Am liebsten arbeite ich in Wohnbereichen“, sagt die Leibniz-Preisträgerin, „und ich fühle mich den Menschen, deren Hinterlassenschaften wir freilegen, sehr nahe. Besonders wenn auch Tontafeln gefunden werden, lernt man die Bewohnerinnen und Bewohner sehr gut kennen.“
Als Spezialistin für das assyrische Reich werde sie meistens mit den Umständen des Untergangs dieses Staates durch die babylonische Invasion konfrontiert, der für seine Bevölkerung sehr plötzlich kam und aufgrund des Charakters eines Rachefeldzuges brutale Konsequenzen hatte. „Das ist immer berührend und macht nachdenklich.“

Torben Dietrich (12. Mai 2022)

Zur Person

Prof. Dr. Karen Radner, Ludwig-Maximilians-Universität München

Forschungsfeld: Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens 
Leibniz-Preis für: International bedeutende und einflussreiche Pionierarbeit bei der Erschließung assyrischer Quellen 
Stationen: Universität Wien, Freie Universität Berlin, Ludwig-Maximilians-Universität München, University College London

Weitere Informationen

Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ist der wichtigste Forschungsförderpreis in Deutschland und wird jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) auf Vorschlag Dritter vergeben. Die Preisträgerinnen und Preisträger erhalten die Möglichkeit, ihre Forschung zu erweitern, zu intensivieren und besonders begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu beschäftigen. Der Leibniz-Preis ist mit jeweils bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert.