„Die Wissenschaftsfreiheit ist 2020 nicht abgestürzt“

FAU/Pöhlein

Dr. Katrin Kinzelbach ist Professorin für Internationale Politik der Menschenrechte an der FAU Erlangen-Nürnberg.

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach von der FAU Erlangen-Nürnberg entwickelte mit Forschenden der FAU, des V-Dem-Instituts der Universität Göteborg, des Global Public Policy Institute (GPPi) und den Scholars at Risk Network den Academic Freedom Index (AFi). Mithilfe des AFi wird jedes Jahr der Stand der Wissenschaftsfreiheit in fast allen Ländern der Welt bewertet. Ein Interview mit der Politikwissenschaftlerin über die Ergebnisse des aktuellen Berichts. 

Was sind die wichtigsten Änderungen beziehungsweise Neuerungen im Vergleich zur AFi-Erhebung des Vorjahres?
Die jüngste Erhebung hatte eine viel größere Reichweite, mittlerweile deckt der Index 175 Länder und Gebiete ab. Es gibt zwar immer noch ein paar Lücken, aber dort leben weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung. Der AFi ist jetzt ein globaler Index, das finde ich ganz großartig. An der Methode der Datenerhebung hingegen ist nichts neu – das ist auch wichtig, denn sonst wären die Daten nicht mehr vergleichbar.

Gibt es Länder oder Regionen, die sich in den vergangenen Jahren bei den AFi-Werten besonders deutlich verbessert oder verschlechtert haben?
In den letzten fünf Jahren wurden Verbesserungen in Gambia, Sudan, Kasachstan, der Republik Nordmazedonien und den Malediven beobachtet. Im selben Zeitraum gab es die größten Verschlechterungen in Brasilien, Kolumbien, Nicaragua, Sambia, der Türkei und auch in Hongkong. Wenn man nur die Werte von 2019 mit denen von 2020 vergleicht, stechen neben Sambia und Hongkong auch Sri Lanka und Weißrussland negativ hervor.

„Die Wissenschaftsfreiheit ist 2020 nicht abgestürzt“

GPPi

Datenquelle: V-Dem v11. Visualisierung mit AFi-Statusgruppen von GPPi und FAU.

Welche Befunde haben Sie am meisten überrascht?
Ich hatte befürchtet, dass wir wegen der Corona-Pandemie einen deutlichen Rückgang der Wissenschaftsfreiheit feststellen würden. 2020 waren über lange Zeiträume keine Präsenzveranstaltungen möglich, etliche internationale Konferenzen wurden abgesagt, und die Durchführung von Forschung war nur unter Sonderauflagen möglich. Jetzt können wir allerdings Entwarnung geben: Die Wissenschaftsfreiheit ist 2020 nicht abgestürzt. Zum Glück hatten wir bei der Formulierung des Codebuchs an ein solch unwahrscheinliches Szenario gedacht. Die Länderexpertinnen und -experten haben daher die politische Intention und Verhältnismäßigkeit der Universitätsschließungen berücksichtigt. Trotzdem hat die Pandemie in einzelnen Ländern zusätzlichen Druck auf die Wissenschaftsfreiheit befördert. So eröffnet die Umstellung auf digitalen Unterricht Möglichkeiten für eine lückenlose Überwachung, und das führt schnell zu mehr Selbstzensur. Und wenn man sich den weltweiten Trend über einen längeren Zeitraum anschaut, so müssen wir leider einen leichten, aber stetigen Rückgang seit 2013 feststellen.

Was wenden Sie gegen die Kritik ein, dass die AFi-Werte maßgeblich auf subjektiven Einschätzungen von Expertinnen und Experten beruhen, noch dazu bei einigen Ländern auf nur drei solcher Bewertungen?
Zunächst kann ich verstehen, dass viele erst mal an Subjektivität denken, wenn sie von Experteneinschätzungen hören. Mir ging es anfangs auch so. Wir haben uns tatsächlich sehr lange Gedanken darüber gemacht, welche Art von Daten für eine weltweite Erhebung zur Wissenschaftsfreiheit in Frage kommen. Und ich bin überzeugt davon, dass es keine bessere Methode gibt. Bei Ereignisdaten zum Beispiel gibt es enorme Informationseffekte. Außerdem müssen Ereignisse – wie das eben erwähnte Verbot von Präsenzunterricht – immer kontextualisiert werden. Unsere Partner vom V-Dem Institut an der Universität Göteborg haben eine sehr ausgereifte und international anerkannte Methode entwickelt, um Experteneinschätzungen sinnvoll zu erheben und zu aggregieren. Das von V-Dem entwickelte Modell errechnet auf der Basis von Probabalistischer Testtheorie den wahrscheinlichsten Wert – und ein Konfidenzintervall. Es gibt mehrere Schritte, um die Subjektivität zu minimieren. Die Steigerung der Codiererzahl allein garantiert keine Objektivität, aber wenn es zu wenig Input gibt, funktioniert die Berechnung natürlich nicht. Meine Kollegin Janika Spannagel hat sich die Zahlen noch mal genau angeschaut: 2020 gab es weltweit nur ein einziges Land, bei dem wir uns mit drei Codierern genügen mussten, das war Luxemburg. Im historischen Verlauf hat V-Dem für rund 13.800 Länderjahre einen Index-Wert berechnet, darunter sind nur 83 Länderjahre mit drei Codierern. Im Durchschnitt sind es zehn – für eine internationale Erhebung erscheint mir das wirklich gut zu sein. Hoffentlich stellen in den nächsten Jahren noch mehr Forschende ihre Länderexpertise zur Verfügung, so können wir den AFi weiter verbessern.

Interview: Dr. Jan Kercher (18. März 2021)

Zur Person

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach ist Politikwissenschaftlerin an der FAU Erlangen-Nürnberg und Ko-Direktorin des internationalen Studiengangs MA Human Rights.