Leibniz-Preis für DAAD-Alumnus: Prof. Dr. Steffen Mau im Porträt

Marten Körner

Möchte kein „Schreibtischsoziologe“ sein: Prof. Dr. Steffen Mau, Preisträger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises 2021.

Innovative und zugängliche soziologische Arbeiten: Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, wird mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2021 für methodisch innovative Analysen der vielfältigen gesellschaftlichen Transformationen unserer Gegenwart ausgezeichnet.

Seinen größten öffentlichen Erfolg verdankt Steffen Mau einer Rostocker Plattenbausiedlung. Genauer gesagt: seiner genauen soziologischen Analyse der eigenen Kindheit und Jugend, die er dort verbrachte und in einem Bestseller zugänglich machte. Doch der Reihe nach. Als Doktorand kam Steffen Mau 1998 mit einem DAAD-Stipendium an das Europäische Hochschulinstitut nach Florenz, wo er 2001 mit dem Thema „The Moral Economy of Welfare States: Britain and Germany Compared” promovierte. „Dort habe ich entscheidende Impulse für meine Karriere bekommen“, sagt er heute. Vergleichende Wohlfahrtsstaatsanalysen sind weiterhin ein wichtiger Bereich in der Forschung von Mau, wobei sich die Gewichte ein wenig verschoben haben.

Derzeit zentraler für ihn sind Untersuchungen zur Dynamik sozialer Ungleichheiten und gesellschaftlicher Polarisierung. Diese kulminierten 2019 in seinem jüngsten Buch „Lütten Klein“. Darin schaut er mit einem genauen soziologischen Blick auf das gleichnamige Rostocker Neubauviertel, in dem er selbst aufwuchs. Mit dieser auch persönlichen Perspektive machte er die tiefgreifenden Veränderungen, die Ostdeutschland seit 1989 erlebte, sehr erfolgreich einem großen, auch nicht-akademischen Publikum verständlich.

Publizistischer Erfolg mit „Lütten Klein“
Steffen Mau kombiniert makrosoziologische Strukturanalysen mit einer dichten Beschreibung des individuellen und sozialen Lebens auf Mikroebene. Mit diesem Ansatz zielt er in „Lütten Klein“ auf Ursachen gesellschaftlicher Frakturen, die sich in Ostdeutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung und im anschließenden gesellschaftlichen Transformationsprozess bis heute beobachten lassen. Mau weiß, wovon er schreibt, denn er hat den Wandel selbst durchlebt: Von der Ausbildung zum Elektronikfacharbeiter beim VEB Schiffselektronik Rostock und den eineinhalb Dienstjahren bei der Nationalen Volksarmee über eine Phase als Pflegehilfskraft in einem Rostocker Seniorenheim bis zum Beginn des Studiums der Soziologie an der Freien Universität Berlin 1991 – seinen reichen Erfahrungsschatz nutzt er gekonnt, um die Makroperspektive zu ergänzen und der Darstellung Anschaulichkeit zu verleihen.

Kein „Schreibtischsoziologe“
Er betrachte die Situation mit dem Blick des Soziologen, sagt Mau. „Ich habe aber auch einen biografischen Zugang dazu, das macht es leichter, das Thema für ein breiteres Publikum aufzuschließen. Wo es geht, vermeide ich es, als Schreibtischsoziologe zu agieren.“ 

Der Ansatz erscheint vielen sehr wertvoll. Lange habe die westdeutsche Öffentlichkeit nach der Wende geglaubt, das Thema Ostdeutschland werde verschwinden. „Aber spätestens 2015, als hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland Zuflucht suchten, haben wir gesehen, dass dies nicht der Fall ist und sich bei der ostdeutschen Bevölkerung eine Menge Frust angestaut hatte“, sagt Steffen Mau.  

Gesellschaftlicher Wandel als Kernthema
Sein Kernthema, nämlich Prozesse gesellschaftlichen Wandels, untersucht Mau unter Zuhilfenahme eines breiten Instrumentariums: von quantitativer Survey-Forschung bis hin zu Fallstudiendesigns. „Es kommt mir dabei besonders auf den Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit einerseits sowie der Veränderung von Mentalitäten und Einstellungen andererseits an“, sagt der 52-jährige Wissenschaftler. 

Damit in engem Zusammenhang steht das Thema seiner Promotion, die er mit einem DAAD-Stipendium 2003 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz beendete. In seiner Dissertationsschrift „The Moral Economy of Welfare States: Britain and Germany Compared“ zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung unternahm Mau eine Weiterentwicklung des Konzeptes einer „moralischen Ökonomie“. „Das bedeutete den Einstieg in meine wissenschaftliche Karriere“, erinnert sich Mau. „Insbesondere die Betreuung durch Colin Crouch, einen herausragenden britischen Soziologen, trug viel dazu bei, diesen Schritt zu gehen.“ Im Wesentlichen befasst sich Steffen Mau in seiner Dissertation mit der Frage, wie umverteilende sozialpolitische Institutionen Akzeptanz erfahren und welche Unterstützungsmotive in unterschiedlichen nationalen Kontexten eine Rolle spielen.  
Wichtigen Input und einen Anstoß zu diesen Themen erhielt der Soziologe bereits 1994/1995 während seines vom DAAD geförderten Aufenthalts an der University of Bristol im Vereinigten Königreich. „Dort gab es ‚Social Policy‘ als eigenes Studienfach, das war ein neuer, spannender Zugang“, sagt Mau, der darüber hinaus die Zeit in England intensiv nutzte, um seine Sprachkenntnisse zu vertiefen und internationaler zu arbeiten.

Makrosoziologische Gesellschaftsvergleiche
Diesen komparatistischen Ansatz in der Sozialforschung baute Steffen Mau nach seiner Dissertation als Juniorprofessor für Sozialpolitik an der Universität Bremen aus und koordinierte hier ab 2003 das Themenfeld „Welfare State Transformation“ an der dortigen Graduate School of Social Sciences. Zwei Jahre später übernahm Mau in Bremen die Professur für Politische Soziologie und vergleichende Analyse von Gegenwartsgesellschaften. An der Weser wirkte er bis 2015, mit besonderem Augenmerk auf die Entwicklung der Mittelschicht, bis er einem Ruf der Humboldt-Universität zu Berlin folgte, zu einer Professur für Makrosoziologie. 

Einen umfassenden, auf große Veränderungen geschulten Blick wirft Mau auch auf sein eigenes Fach: Vor dem Hintergrund der Globalisierung geht es ihm „um die Überwindung des ‚methodologischen Nationalismus‘ in den Sozialwissenschaften“. Das bedeutet, dass oft die Annahme vorherrsche, der Nationalstaat sei der einzig sinnvolle Ausgangspunkt für theoretische Konzepte und Analysemethoden. 

Globalisierung und Grenzregime
In diesem Zusammenhang macht Steffen Mau die heute wichtige gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen kosmopolitischen Orientierungen und nationalgesellschaftlichen Schließungsinteressen zum Thema. Untersuchungen zur globalen Manifestation und Transformation von Grenzregimen veröffentlichte er bereits 2012 als Co-Autor in der Schrift „Liberal States and the Freedom of Movement. Selective Borders, Unequal Mobility“. Die Durchlässigkeit und – je nach Kontext – die Zu- oder Abnahme von Befestigungen sowie die daraus resultierenden Auswirkungen beschreibt Mau in seinem im Sommer 2021 erscheinenden Buch „Sortiermaschinen. Grenzen im 21. Jahrhundert“. 

Für sich als Wissenschaftler hat Steffen Mau mit der Verleihung des Leibniz-Preises die Grenzen weiter nach vorn verschoben. Dank des Preisgeldes ist es ihm nun möglich, mehr Forschungsprojekte zu Themen des sozialstrukturellen Wandels voranzutreiben: „Ich habe vor, mit dem Preisgeld ein stabiles Team zusammenzustellen.“

Torben Dietrich (16. März 2021)

Zur Person

Prof. Dr. Steffen Mau, Humboldt-Universität zu Berlin

Forschungsfeld: Makrosoziologie  

Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis für: Richtungsweisende Analysen gesellschaftlicher Transformation in der Gegenwart.

Berufliche Stationen: Freie Universität Berlin, University of Bristol, Europäisches Hochschulinstitut Florenz, Universität Bremen, Humboldt-Universität zu Berlin.

Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis


Der Wissenschaftspreis ist der wichtigste Forschungsförderpreis in Deutschland und wird jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) auf Vorschlag Dritter vergeben. Die Preisträgerinnen und Preisträger erhalten die Möglichkeit, ihre Forschung zu erweitern, zu intensivieren und besonders begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu beschäftigen. Der Leibniz-Preis ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro pro Preisträgerin oder Preisträger dotiert. Die Preisverleihung fand in diesem Jahr am 15. März virtuell statt.