„Wir brauchen mutige Ideen für den Austausch“

Eric Lichtenscheidt/DAAD

Dr. Muriel Helbig ist seit 2020 Vizepräsidentin des DAAD: Zeit für eine erste Bilanz.

Die Hochschulen spüren, so wie zahlreiche andere Institutionen auch, die Auswirkungen der Corona-Pandemie aktuell ganz besonders: Viele Formate des wissenschaftlichen Austauschs sind entfallen, aufgeschoben oder ins Virtuelle verlagert. Warum sie gerade jetzt die Fahne der Internationalisierung hochhält und welche Rolle die Digitalisierung dabei spielt, erklärt Dr. Muriel Helbig, seit Anfang des Jahres 2020 Vizepräsidentin des DAAD, in einer ersten Bilanz.

Frau Dr. Helbig, Sie haben zum Jahresbeginn Ihr Amt als DAAD-Vizepräsidentin angetreten, die ersten – sicherlich abwechslungsreichen – Monate liegen hinter Ihnen. Wie fällt Ihre bisherige Bilanz aus? 
Es war eine herausfordernde Zeit für den DAAD, aber auch für das Amt der Vizepräsidentin, zu dem es eben auch gehört, dass man sichtbar ist und repräsentiert. Unter den gegebenen Umständen ist das gelungen, allerdings freue ich mich wirklich sehr auf mehr Austausch. Da wegen Corona viele Formate abgesagt oder in den virtuellen Raum verschoben wurden, konnte ich in meinen ersten hundert Tagen im Amt kaum eine „Live“-Veranstaltung besuchen. Das ist schon sehr ungewöhnlich.

Wo wollen Sie Ihre nächsten Schwerpunkte setzen? 
Die Basisaufgabe des DAAD, den akademischen Austausch zu ermöglichen und voranzutreiben, ist dauerhaft relevant, nicht nur wenn man an die Notwendigkeit der Zusammenarbeit bei großen Themen wie beispielsweise Klimaschutz, Gesundheit oder Konfliktforschung denkt. Hier müssen wir uns als DAAD klar positionieren und die Bedeutung der Internationalisierung beständig und klar erläutern, hervorheben und vertreten. Insbesondere in der aktuellen Situation ist es aber auch nötig, mutige, kreative oder sogar disruptive Ideen zu entwickeln, wie der Austausch und dessen Wandel möglich sind. Das ist eine große Herausforderung, und dabei unterstütze ich gerne.

Austausch lebt von Begegnung. Die Corona-Krise hat die physische Komponente vieler Initiativen extrem eingeschränkt. Wie begegnen Sie diesen Herausforderungen und was sind Ihre bisherigen Erkenntnisse aus der Corona-Zeit? 
Wir haben gelernt, dass der Kontakt mithilfe digitaler Methoden sehr gut funktioniert, sowohl mit Studierenden als auch Lehrenden und internationalen Partnern. Wir erleben überall einen massiven Schub an digitalen Formaten, deren Akzeptanz uns langfristig erhalten bleiben wird. Es wurde allerdings ebenfalls deutlich, dass die persönliche Begegnung einen ganz eigenen Mehrwert hat. Unsere Austauschformate müssen daher auf das jeweilige Ziel zugeschnitten sein. Wann können oder wollen wir auf reale Mobilität nicht verzichten, wo lässt sich gut mit digitalen oder gemischten Formaten arbeiten? Besonders hohe Priorität hat meiner Ansicht nach insbesondere der studentische Austausch. Dieser kann zwar sehr gut digital flankiert werden, ist aber durch digitale Formate meiner Ansicht nach nicht grundsätzlich zu ersetzen. Konferenzen als anderes Beispiel des wissenschaftlichen Austauschs können hingegen sowohl persönlich als auch per Video oder als hybride Veranstaltung stattfinden.

Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie vor diesem Hintergrund in der Digitalisierung der Kooperationen für die Hochschulen im europäischen Bildungsraum?
Ich wünsche mir generell eine hohe europäische Identität und ein weiteres Zusammenwachsen. Durch die Digitalisierung hatten wir schon vorher wertvolle Instrumente, die nun noch breitere Akzeptanz finden. Damit können wir den Weg zum europäischen Bildungsraum weiter stärken, noch besser Ländergrenzen überschreiten und mit ergänzenden digitalen Formaten die Menschen erreichen. Ein Punkt, der häufig nicht genug diskutiert wird, ist, dass digitale oder hybride Formen sehr viel mehr Teilhabe ermöglichen, etwa von Studierenden oder Lehrenden mit eingeschränkter Mobilität. Das kann ein großer Beitrag sein zu mehr Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Wir müssen im Rahmen der Digitalisierung deshalb immer auch inklusive Lösungen mitdenken. Und wir haben nun die entsprechenden Werkzeuge, diese verstärkt umzusetzen.

Viele heutige Fragestellungen lassen sich nur in Netzwerken und durch übergreifende Kooperationen lösen. Welchen Beitrag können dabei die „Europäischen Hochschulallianzen“ und das flankierende Begleitprogramm des DAAD leisten?
Die Initiative „Europäische Hochschulen“ ist letztlich eine Weiterentwicklung bestehender Aktivitäten und des Kooperationsgedankens, hebt allerdings die Zusammenarbeit der Hochschulen auf eine neue Qualitätsstufe, da sie sich beispielsweise auch auf die Verwaltung erstreckt und die Erarbeitung gemeinsamer Strategien bedeutet und erfordert. Dazu muss sich die gesamte Hochschule weiterentwickeln. Es gibt also quasi einen europäischen interuniversitären Campus, mit einem Fokus auf innovativem Lehren und Lernen. Das Mobilitätsziel für diese Allianz liegt bei 50 Prozent und wir hoffen, dass sich vernetzte Teams bilden, die sich gemeinsam den internationalen, regionalen und auch lokalen Herausforderungen stellen. Denn gerade jetzt sieht man deutlich, dass wir die großen Herausforderungen wie Corona oder Klimawandel nur gemeinsam bewältigen können. Dazu brauchen wir Personen, die gewillt sind zusammenzuarbeiten und dann auch gut vernetzt sind.

Wie beurteilen Sie die im Juli erfolgte Auswahl der zweiten Pilotrunde der „Europäischen Hochschulen“ durch die Europäische Kommission?
Die EU-Kommission hat Anfang Juli die Ergebnisse für die Auswahl bekanntgegeben und ich finde, das Abschneiden der deutschen Hochschulen ist als besonderer Erfolg hervorzuheben. 20 deutsche Hochschulen sind an 18 der ausgewählten Allianzen beteiligt, wovon wiederum fünf sogar die Koordination der jeweiligen Allianz leiten. Das ist ein sehr erfreuliches Signal, ebenso, dass auch zwei Hochschulen der Angewandten Wissenschaften (HAW) dabei sind. Im Rahmen von „Europäische Hochschulnetzwerke (EUN) – nationale Initiative“, die eng mit der EU-Initiative verzahnt ist, werden die deutschen Hochschulen noch einmal gezielt innerhalb ihrer Europäischen Hochschulallianzen gefördert. Der DAAD unterstützt sie beim (weiteren) Ausbau vorhandener tragfähiger Allianzen, insbesondere in den Bereichen Lehre, Forschung und „Third Mission“. Dies wird uns helfen, die europäische Dimension deutscher Hochschulen und damit auch den wissenschaftlichen Austausch zu stärken.

Stephan Kuhn (12. November 2020)