„Auslandserfahrung fördert Karriereentwicklung“

Eric Lichtenscheidt

Dr. Jan Kercher ist beim DAAD Experte für externe Studien und Statistiken.

Die neuen Daten und Zahlen zur Internationalität von Studium und Forschung „Wissenschaft weltoffen 2020“ zeigen: Deutsche Studierende sind überdurchschnittlich mobil und Deutschland wiederum ist ein beliebtes Gastland für internationale Studierende und Promovierende. Und doch gibt es noch viel Potenzial, beides auszubauen. Warum, erklärt Dr. Jan Kercher, Experte für externe Studien & Statistiken beim DAAD.

Die internationale Mobilität deutscher Studierender ist hoch: 18 Prozent besuchen im Laufe ihres Studiums eine ausländische Hochschule. Damit liegt Deutschland im europäischen Ranking hinter Luxemburg, Zypern und den Niederlanden auf Platz 4. Das Mobilitätsziel der EU von 20 Prozent wurde aber knapp verfehlt. Was muss Deutschland tun, um die Mobilität seiner Studierenden zu erhöhen?

Dr. Jan Kercher: Das europäische Mobilitätsziel setzt sich aus zwei Mobilitätsarten zusammen: Bei der sogenannten Degree Mobility, das heißt einem Auslandsstudium, bei dem ein Abschluss im Ausland angestrebt wird, steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden sehr gut da. Schlechter sieht es bei der sogenannten Credit Mobility aus. Das sind laut europäischer Definition Auslandssemester und -praktika, bei denen mindestens 15 Leistungspunkte nach dem European Credit Transfer System erworben werden oder die mindestens drei Monate lang dauern. Da können und sollten wir noch aufholen, um das 20-Prozent-Ziel zu erreichen. Der beste Ansatzpunkt hierfür ist sicherlich die gezielte Unterstützung derjenigen Studierendengruppen, die bislang unter den auslandsmobilen Studierenden unterrepräsentiert sind, wie Lehramtsstudierende, Studierende an Fachhochschulen beziehungsweise Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) oder ganz allgemein Bachelor-Studierende. Mit unseren beiden neuen Mobilitätsprogrammen „Lehramt.International“ und „HAW.International“ setzen wir deshalb genau an diesem Punkt an. Stark unterrepräsentiert sind übrigens auch Erstakademikerinnen und -akademiker, also Studierende, deren Eltern nicht studiert haben. Auch da sehe ich noch viel Potenzial für neue, zielgerichtete Programme des DAAD, die dabei helfen, Studierendenmobilität breiter und diverser zu machen.

„Auslandserfahrungen hilft auch bei der späteren Karriereentwicklung“

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Mobilitätsraten von Hochschulabsolventinnen und -absolventen in Deutschland sowie ausgewählten anderen Ländern im Prüfungsjahr 2017 gemäß EU-Benchmark (Quelle: Europäische Kommission, Education and Training Monitor 2019).

Insgesamt ist in Deutschland in den letzten Jahren aber eher ein Rückgang der Studierendenmobilität festzustellen. Woran liegt das?

Dr. Jan Kercher: Auffällig ist, dass studienbezogene Auslandsaufenthalte heute von vielen Studierenden nicht mehr als so entscheidend für die spätere Karriere angesehen werden wie noch vor zehn oder 20 Jahren. Möglicherweise sind wir hier auch Opfer unseres eigenen Erfolgs. Denn je mehr Leute während des Studiums ins Ausland gehen, desto weniger kann ich mich mit so einem Aufenthalt im Lebenslauf von anderen Bewerberinnen und Bewerbern abheben. Das dürfte die Wahrnehmung vieler Studierender in der beschriebenen Weise beeinflusst haben. Das Problem dabei: Diese Sichtweise deckt sich nicht mit der Sichtweise der Unternehmen. Für diese sind studienbezogene Auslandserfahrungen nach wie vor ein wichtiger Pluspunkt im Lebenslauf, besonders bei größeren und international agierenden Unternehmen. Das wissen wir aus unseren Unternehmensbefragungen, die wir alle vier Jahre durchführen, zuletzt 2019. Und: Auslandserfahrungen helfen nicht nur beim Berufseinstieg, sondern auch bei der späteren Karriereentwicklung. Unser Ziel ist es deshalb, auf der Basis der Befunde unserer letzten Unternehmensbefragung, die Wahrnehmungen und Bedürfnisse von Studierenden und Unternehmen besser in Einklang zu bringen – indem wir einerseits die Studierenden über die Bedürfnisse der Unternehmen informieren und andererseits den Unternehmen aufzeigen, welch wichtige Signalfunktion Auslandsaufenthalte in den meisten Fällen haben. Bislang herrscht dort in vielen Fällen die Auffassung, dass studienbezogene Auslandsaufenthalte vor allem für eine höhere interkulturelle Kompetenz und bessere Fremdsprachenkenntnisse sorgen. Weniger bewusst ist vielen Personalverantwortlichen hingegen, dass in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde, dass solche Aufenthalte auch mit signifikanten Lerneffekten bei Schlüsselkompetenzen wie Selbstständigkeit, Problemlösungsfähigkeiten und Offenheit für neue Erfahrungen verbunden sind. Wenn wir es schaffen, mehr Studierenden diese wirklich umfassenden Effekte der Auslandsmobilität zu vermitteln, dann bin ich mir sicher, dass in Zukunft wieder mehr deutsche Studierende während des Studiums ins Ausland gehen.

„Auslandserfahrungen hilft auch bei der späteren Karriereentwicklung“

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Abschlussbezogene und temporäre studienbezogene Auslandsmobilität deutscher Studierender seit 1991 (Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Studierende im Ausland, länderspezifische Berichtszeiträume; DSW-Sozialerhebungen 1991–2016).

Der attraktivste Studienstandort für auslandsmobile Studierende im Europäischen Hochschulraum ist laut den erfassten Daten Großbritannien mit 151.000 Studierenden, gefolgt von Deutschland mit 110.000 Studierenden. Wie kann sich der Studienstandort Deutschland den Spitzenplatz erobern?

Dr. Jan Kercher: Allein durch den Brexit wird es wahrscheinlich zu einer Verschiebung der Studierendenmobilität innerhalb Europas kommen, weg von Großbritannien, hin zu anderen attraktiven Gastländern wie natürlich auch Deutschland. In diesem Sinne wird der Brexit sicherlich dazu führen, dass Deutschland im Vergleich zu Großbritannien als Gastland attraktiver wird, zumindest für Studierende aus anderen EU-Ländern. Alle Prognosen zu den Folgen der Corona-Pandemie für die internationale Hochschulwelt sagen zudem voraus, dass der Faktor „Bezahlbarkeit“ in Zukunft bei der Entscheidungsfindung international mobiler Studierender sehr stark an Bedeutung gewinnen wird. Hier steht Deutschland im Vergleich zu fast allen anderen wichtigen Gastländern – insbesondere den USA, Großbritannien und Australien – sehr gut da. Es gibt mittlerweile zudem über 1.600 englischsprachige Studiengänge in Deutschland, insbesondere im Masterbereich. Und auch nach dem Studium werden internationalen Absolventinnen und Absolventen in Deutschland gerade auch im Vergleich zu anderen Gastländern attraktive Möglichkeiten geboten, mit einem 18-monatigen Aufenthaltsrecht zur Jobsuche nach dem Studienabschluss. Nimmt man zu diesen Faktoren noch den weltweit guten Ruf der deutschen Hochschulbildung hinzu, dann bin ich sehr optimistisch, dass Deutschland den Abstand zu Großbritannien in den nächsten Jahren deutlich reduzieren wird.

„Auslandserfahrungen hilft auch bei der späteren Karriereentwicklung“

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Wichtige Ströme der Studierendenmobilität innerhalb des Europäischen Hochschulraums 2017 (Quelle: UNESCO, Studierendenstatistik).

Deutschland ist als Gastland für internationale Promovierende sehr beliebt (Platz 4 weltweit). Was sind die Gründe dafür?

Dr. Jan Kercher: In erster Linie sicherlich der exzellente Ruf der deutschen Hochschulen und ihrer Forschungsleistung, gerade im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Hinzu kommt, dass in diesen Forschungsbereichen die Laborsprache zumeist Englisch ist. Das heißt, es gibt hier kaum sprachliche Hürden für internationale Promovierende. In Deutschland genießen Promovierende im Vergleich zu vielen anderen Ländern zudem eine große Freiheit und Selbstständigkeit bei ihrer Forschung, trotz der zunehmenden Bedeutung von Graduiertenakademien. Ein weiteres Argument ist schließlich der bislang sehr attraktive deutsche Arbeitsmarkt, gerade im technisch-ingenieurwissenschaftlichen Bereich.

Dagegen ist der Anteil der auslandsmobilen Promovierenden aus Deutschland mit sieben Prozent vergleichsweise klein. Woran liegt das? Ist das langfristig ein Vorteil für Wissenschaft und Forschung in Deutschland?

Dr. Jan Kercher: Man muss hier zunächst unterscheiden: Bei den zitierten sieben Prozent handelt es sich um diejenigen Promovierenden aus Deutschland, die ihre komplette Promotionsphase im Ausland verbringen, dort also auch ihren Abschluss anstreben. Betrachtet man hingegen die temporäre promotionsbezogene Mobilität, also beispielsweise Forschungsaufenthalte im Ausland während der Promotion, dann fällt der Anteil der auslandsmobilen Promovierenden hier mit 28 Prozent deutlich höher und interessanterweise exakt gleich hoch aus wie bei den Studierenden. Die Auslandsmobilität der Promovierenden fällt insgesamt also nicht niedriger aus als bei den Studierenden. Im internationalen Vergleich liegen die deutschen Promovierenden damit im oberen Mittelfeld, was die temporären promotionsbezogenen Auslandsaufenthalte angeht, aber eher im unteren Mittelfeld, was die abschlussbezogene Auslandsmobilität angeht. Man kann den letzteren Befund aber durchaus auch positiv interpretieren: Besonders hoch fällt die abschlussbezogene Auslandsmobilität ja häufig in Ländern aus, die ihrem eigenen Forschernachwuchs keine ausreichend attraktiven Promotions- beziehungsweise Forschungsbedingungen vor Ort bieten. Überspitzt formuliert handelt es sich also häufig um eine Art Fluchtbewegung. In den meisten Ländern wird daher eine niedrige abschlussbezogene Auslandsmobilität – sowohl bei den Studierenden als auch bei den Promovierenden – als Beleg eines attraktiven eigenen Hochschulsystems interpretiert. Dass wir in Deutschland also eine hohe abschlussbezogene Auslandsmobilität anstreben, ist im internationalen Vergleich relativ einzigartig und auch sehr selbstbewusst. Denn diese Auffassung können wir uns natürlich nur deshalb leisten, weil wir wissen, dass viele der abschlussmobilen Studierenden und Promovierenden am Ende wieder nach Deutschland zurückkehren und ihr im Ausland erworbenes Wissen mitbringen – oder, wenn sie doch längerfristig im Ausland bleiben, als wichtige Brücken für die deutsche Wissenschaft ins Ausland fungieren.

Heißt das also, dass bei den gut 70 Prozent nichtmobilen Promovierenden in Deutschland während ihrer Promotionsphase gar kein Auslandsaufenthalt stattfindet? Und unterscheiden sich diese Mobilitätshürden von denen der Studierenden?

Dr. Jan Kercher: Dazu liegen uns relativ aktuelle Daten aus der „National Academics Panel Study“ des DZHW vor. Hierfür wurden 2019 mehr als 20.000 Promovierende an 53 deutschen Hochschulen befragt. Wenn man sich die wichtigsten Hinderungsgründe für promotionsbezogene Auslandsaufenthalte anschaut, rangiert die Trennung von Familie und Freunden auf Platz eins. Knapp die Hälfte der Befragten nannte diesen Grund. Das ist ein auffälliger Unterschied zu den Studierenden. Hier spielt dieser Grund eine deutlich geringere Rolle, was aber auch nicht wirklich überraschend ist. Promovierende befinden sich in einer anderen Lebensphase als Studierende, häufig in festen Partnerschaften, teilweise auch schon mit Kindern. Da ist man örtlich natürlich weniger flexibel. Ebenfalls sehr viel häufiger als bei Studierenden wird eine fehlende Beratung und Unterstützung als Grund genannt, von immerhin einem knappen Drittel der Befragten. Da können wir als DAAD natürlich mit entsprechenden Informationskampagnen und Unterstützungsmaßnahmen ansetzen. Wir haben deshalb aktuell mit dem DZHW ein Forschungsprojekt angestoßen, bei dem die Auslandsmobilität von Promovierenden genauer untersucht wird. Wir erhoffen uns von dieser Analyse Erkenntnisse, um die Auslandsmobilität der Promovierenden in Deutschland in Zukunft noch gezielter zu fördern. Es kann für den Forschungsstandort Deutschland nur von Interesse sein, dass auch im Nachwuchsbereich eine möglichst intensive internationale Vernetzung und ein damit verbundener Wissenstransfer stattfindet. Und dies erreicht man – trotz der stark gestiegenen Bedeutung digitaler Austauschformate – am besten immer noch durch persönlichen Austausch, wie zahlreiche Studien zeigen.

„Auslandserfahrungen hilft auch bei der späteren Karriereentwicklung“

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Promovierende an deutschen Hochschulen ohne temporäre promotionsbezogene Auslandsaufenthalte nach Mobilitätshürden 2019 (Quelle: DZHW, National Academics Panel Study (Nacaps) 2019).

Sprechen wir über Corona: Was sind aktuell die wichtigsten Learnings aus der Pandemie für die Hochschulen weltweit?

Dr. Jan Kercher: Ich sehe da zwei zentrale Lerneffekte: Zum einen hat die Corona-Pandemie noch einmal auf beeindruckende Weise belegt, wie wichtig der internationale Austausch und die internationale Zusammenarbeit in der Forschung sind. Nur auf diese Weise war es möglich, so schnell zu relevanten Befunden und darauf aufbauenden Schutzmaßnahmen vor dem neuen Coronavirus zu gelangen. Auch für einen hoffentlich bald verfügbaren Impfstoff ist die internationale Zusammenarbeit absolut unerlässlich. Die andere wichtige Erkenntnis aus meiner Sicht: Hochschulen müssen sich dem Thema Digitalisierung sehr viel engagierter widmen als bisher. Zwar haben die deutschen Hochschulen in der Corona-Pandemie vieles nachgeholt, was andere Länder schon vor Jahren umgesetzt haben, aber wir müssen insgesamt digitaler werden. Diese Aufholjagd bietet Deutschland nun aber die große Chance, dauerhaft zu den Spitzenreitern der Digitalisierung aufzuschließen. Auch wir als DAAD fragen uns daher: Welche Formen des internationalen wissenschaftlichen Austauschs können wir noch stärker als bisher durch digitale Medien oder Formate unterstützen? Wie können wir dadurch nachhaltiger agieren als bisher, zum Beispiel durch die Vermeidung unnötiger Flugreisen? Längere Studien- und Forschungsaufenthalte werden sich sicherlich auch in Zukunft nicht komplett durch virtuelle Formen der Mobilität ersetzen lassen, aber gerade im Bereich der Kurzzeitmobilität ist hier sicherlich noch großes Potenzial für mehr Digitalisierung und mehr Nachhaltigkeit vorhanden.

Die Fragen stellte Michael Siedenhans. (28. Oktober 2020)