Gesellschaftliche Vielfalt erforschen: In Deutschland, Europa und dem Nahen Osten

HCGES

Buchvorstellung 2018 in Haifa gemeinsam mit Dr. Anna Abelmann, Katharina Konarek, Prof. Fania Oz-Salzberger, Prof. Eli Salzberger und der deutschen Botschafterin Dr. Susanne Wasum-Rainer (von links).

Das Zentrum für Deutschland- und Europastudien in Haifa (HCGES) vermittelt seinen Studierenden und Doktoranden ein modernes Deutschlandbild. In Zeiten der Corona-Krise unter anderem mit einer virtuellen Reise nach Berlin.

Die Universität Haifa im Norden Israels ist eine besondere Hochschule: Akademischen Anspruch verbindet sie mit einer außergewöhnlich multikulturellen Atmosphäre. An keiner anderen israelischen Universität ist der Anteil der arabischen Studierenden (circa 30 Prozent) so hoch; sie studieren gemeinsam mit jüdischen, drusischen und christlichen Kommilitoninnen und Kommilitonen. „Die Universität ist sehr auf friedliche Koexistenz bedacht. Das erleichtert es uns, unsere Brückenfunktion wahrzunehmen“, sagt Katharina Konarek, wissenschaftliche Koordinatorin des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (HCGES) an der Universität. Auch am HCGES kommen jüdische und arabische Studierende zusammen; ihr fachlicher Fokus liegt auf sozialen, politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Studien zu Deutschland und Europa seit 1945.

Das HCGES ist Teil des weltweiten, interdisziplinären Netzwerks der DAAD-geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien. Als die traditionelle Studienreise des Zentrums Ende Juli nach Berlin führte, coronabedingt als virtueller Trip, waren Masterstudierende sowie Doktorandinnen und Doktoranden der Zentren in Porto Alegre, Birmingham und St. Petersburg ebenso dabei wie DAAD-geförderte Teilnehmende aus Ost-Jerusalem, Alexandria, Bonn und Delhi. Das Thema der Studienreise mit dem Schwerpunkt Migration: „Der Nahe Osten in Berlin“.

Gesellschaftliche Vielfalt erforschen: In Deutschland, Europa und dem Nahen Osten

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Willkommen in Berlin: Christopher Dinkelaker von der Reiseagentur Alsharq stellt das Programm der virtuellen Studienreise vor.

Zahlreiche Begegnungen in Berlin
„Wir schlagen eine lebendige Brücke nach Deutschland“, betont HCGES-Koordinatorin Konarek. Dafür stehen auch die zahlreichen Begegnungen während der virtuellen Studienreise, etwa mit Omid aus dem Iran, Nayera aus Ägypten und Wael aus Syrien. Sehr persönlich schilderten sie, warum Menschen in Deutschland Zuflucht suchen und wie ihnen in Berlin eine große arabisch- und persischsprachige Gemeinde den Start in ein neues Leben fernab der Heimat erleichtert.

Über die in Berlin lebenden Kurdinnen und Kurden sprach die Journalistin und Künstlerin Azadê Peşmen und machte dabei auf die große Vielfalt innerhalb dieser Gruppe bei so unterschiedlichen Herkunftsländern wie Irak, Syrien und der Türkei aufmerksam. Wie heterogen auch die große türkeistämmige Bevölkerungsgruppe Berlins ist, hatte schon zum Auftakt der Reise HCGES-Leiter Professor Stefan Ihrig mit seinem Vortrag zu den deutsch-türkischen Beziehungen verdeutlicht.

Israelis in Berlin
Doch was führt Israelis nach Berlin? Geschätzte 15.000 leben in der deutschen Hauptstadt. Yossi Pinas, Masterstudent am HCGES, forscht zu ihren Motiven und stellte der Reisegruppe erste Ergebnisse seiner Arbeit vor. Demnach zieht es unter den Israelis vor allem Singles im Alter zwischen 20 und 30 Jahren nach Berlin. Sie suchten dort einen alternativen Lebensstil sowie eine friedliche und zugleich kreative Umgebung, in der sie sich voll entfalten könnten.

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„Turning Points in 20th Century Germany“ lautete 2019 der Titel einer internationalen Konferenz von Doktorandinnen und Doktoranden an der Universität Haifa.

Gemeinsam Grenzen überwinden
Entfaltungsmöglichkeiten sind es auch, die das HCGES für Studierende und Doktoranden attraktiv machen. Israelis mit Interesse an Deutschland finden am Zentrum eine wissenschaftliche Heimat, ganz gleich, ob sie jüdischer oder arabischer Herkunft sind. „Hebräisch, Arabisch, Englisch, diese an der Universität Haifa gepflegte Dreisprachigkeit ist auch für das HCGES wichtig“, erzählt Katharina Konarek. „Unsere Studierenden, auch die internationalen, verbindet das Interesse an Deutschland und Europa. In Israel sind die Erfahrungen von Grenzen und Abschottung sehr prägend. Deshalb ist auch die gemeinsame Studienreise so wichtig.“ In den vergangenen Jahren führte die Reise nicht nur nach Deutschland, sondern auch zu europäischen Institutionen wie dem EU-Parlament in Brüssel. In Frankfurt an der Oder wurde die offene deutsch-polnische Grenze besucht.

2020 agierte das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (CDEA) im brasilianischen Porto Alegre als Partner der virtuellen Studienreise. „Mit ihrem rechtswissenschaftlichen Schwerpunkt bereichern die Kolleginnen und Kollegen unseren Blick auf das Thema Migration“, sagt Katharina Konarek. „Erst im Herbst 2019 hat das CDEA dazu eine Konferenz in Porto Alegre ausgerichtet. Solche Anknüpfungspunkte sind für das weltweite Netzwerk der DAAD-geförderten Zentren von besonderer Bedeutung.“

Interdisziplinäre Blicke auf die Corona-Krise
Am HCGES in Haifa werden im kommenden Semester gleich drei Formate die Corona-Krise aufgreifen. Eine Forschungsgruppe in Kooperation mit der School of Public Health der Universität Haifa geht der Frage nach, wie historische Erfahrungen mit Pandemien in der Gegenwart genutzt werden können. Katharina Konarek verantwortet derweil einen Schwerpunkt zur von der aktuellen Krise belasteten europäischen Solidarität, und HCGES-Leiter Prof. Stefan Ihrig legt den Fokus auf die historische Entwicklung von Verschwörungstheorien und Antisemitismus angesichts von Pandemien.

Attacken auf das friedliche Miteinander von Religionen und Kulturen sparte auch die virtuelle Deutschlandreise des HCGES nicht aus. Yael Attia aus Israel und Iskander Adallah aus Ägypten, die beide in Berlin leben und studieren, berichteten den Teilnehmenden ausführlich über die jüngsten antimuslimischen und antisemitischen Angriffe in Deutschland und nannten dabei die Mordserie in Hanau ebenso wie den Angriff auf die Synagoge in Halle an der Saale als Beispiele.

Zugleich erfuhr die Reisegruppe, wie jüdische und muslimische Gemeinschaften Berlin prägen und dabei für offenen Austausch stehen. In der Neuköllner Dar-as-Salam-Moschee schilderte Imam Mohamed Taha Sabri, dass die Mehrheit der Gemeindemitglieder kein Arabisch spreche und die Freitagspredigt daher ins Deutsche übersetzt werde. Zudem, so Sabri, sei die Moschee nicht nur ein Gebetsort für Muslime, sondern auch ein Treffpunkt für alle Religionsgemeinschaften. Jonathan Hirsch, Doktorand am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, führte die Gruppe virtuell in den Gebetsraum der Synagoge am Fraenkelufer. Hirsch machte deutlich, dass die internationale Anziehungskraft Berlins auch in der Synagoge wirkt: „Wir sind eine sehr vielfältige Gemeinde mit Mitgliedern aus den USA, Frankreich, Großbritannien und Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie Israelis mit den unterschiedlichsten Hintergründen.“

Johannes Göbel (1. Oktober 2020)