„Fördern, Beraten, Denken – das ist der Markenkern des DAAD“

Jonas Ratermann

Der neue Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee sieht den DAAD als wichtigen Taktgeber der Internationalisierung

Seit Januar 2020 ist Prof. Dr. Joybrato Mukherjee als DAAD-Präsident im Amt. Neben der Förderung des akademischen Austauschs sind ihm die Aufgaben des DAAD als Beratungsinstanz der Hochschulen und als Thinktank für Internationalisierung besonders wichtig. Weshalb auch Auslandssemester im virtuellen Raum für ihn ein Thema sind und warum die Hochschulen in Zeiten von Wissenschaftsfeindlichkeit mehr Verantwortung übernehmen sollten, erläutert er im Interview.

Herr Professor Mukherjee, Sie übernehmen 2020 das Amt des Präsidenten des DAAD. Die Arbeit der weltweit größten akademischen Austauschorganisation kennen Sie schon lange aus der Perspektive des Vizepräsidenten – wie definieren Sie die „Marke DAAD“ heute?
Auf der einen Seite beschäftigt uns die Förderung von Stipendiatinnen und Stipendiaten und von geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Projekten – und das schon seit 95 Jahren. Heute sind wir aber mit unserem Wissen und unserer Expertise auch eine wichtige Beratungsinstanz – für unsere Mitgliedshochschulen und für die Politik. Zudem sind wir ein Thinktank, weil wir Trends in der Internationalisierung, in den Hochschulsystemen weltweit und in der Wissenschaft früher als andere durchdenken müssen. Wir möchten Vorschläge machen, wie sich die Internationalisierung weiterentwickeln kann. Fördern, Beraten, Denken – immer bezogen auf internationale Zusammenarbeit – das ist der aktuelle Markenkern des DAAD.

An welchen Punkten werden Sie ansetzen, um den DAAD für die Aufgaben der Zukunft weiter auszurichten?
Wir wollen auf allen drei Ebenen des Förderns, Beratens und Denkens ansetzen. Natürlich werden wir für die Ebene des „Förderns“ immer wieder mit unseren Geldgebern in den Ministerien ins Gespräch darüber eintreten, welche neuen Programme und Instrumente Sinn ergeben. Die Förderlinien entwickeln sich schließlich dynamisch weiter. Es wird neben Individualstipendien künftig um projektbezogene Förderungen gehen und um transnationale Bildungsprojekte, wie wir sie in den vergangenen Jahren bereits intensiviert haben: um Exzellenzzentren in Forschung und Lehre oder um Exzellenzzentren für Entwicklungszusammenarbeit. Diese großen Leuchtturmprojekte in der internationalen Zusammenarbeit werden in den kommenden Jahren eine noch wichtigere Rolle spielen.

Zum Stichwort „Beraten“: Der DAAD hat gerade das Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen eingerichtet … 
Es war uns wichtig, den Mitgliedshochschulen mit unserer Expertise und unserem internationalen Netzwerk noch besser zur Seite stehen zu können. Wir können Antworten geben auf Fragen, mit welchem Land und mit welchen Partnern sie zusammenarbeiten sollen. Ich freue mich, dass wir auf der Ebene der Beratung zu meinem Amtsantritt mit dem Kompetenzzentrum auf einem ganz neuen Niveau einsteigen können. Es schafft die passende Plattform, um unsere Beratungstätigkeit in viele Richtungen auszubauen. Das ist genau die Begleitung, die sich Hochschulen vom DAAD wünschen und die sie von uns brauchen – das sage ich ganz bewusst auch als Präsident einer Mitgliedsuniversität. 

Prof. Dr. Joybrato Mukherjee DAAD
Jonas Ratermann

Prof. Dr. Joybrato Mukherjee ist sich sicher: Mit dem neuen Kompetenzzentrum kann der DAAD Beratung auf einem neuen Niveau anbieten

Eine tragfähige Internationalisierungsstrategie gehört heute zum Rüstzeug vieler Hochschulen. Wo sehen Sie hier Nachholbedarf? 
Alle Hochschulen wissen heute um die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit für ihre Strategiefähigkeit, für ihre Leistungskraft und ihre Wettbewerbsfähigkeit. Alle Hochschulen haben inzwischen Internationalisierungsstrategien oder entwickeln diese. Viele nehmen auch am Audit und Re-Audit „Internationalisierung der Hochschulen“ der Hochschulrektorenkonferenz teil. Die Situation ist hier im positiven Sinn ausgesprochen dynamisch. Mit dem Kompetenzzentrum haben wir jetzt die Möglichkeit, Hochschulen über eine längere Wegstrecke dabei zu begleiten, wie sie ihre Internationalisierungsstrategie entwickeln und umsetzen – in Bezug auf konkrete Partnerländer, Partnerinstitutionen oder internationale Bildungsprojektideen. Viele Hochschulen sind hier bereits bestens aufgestellt und haben exzellente Internationalisierungsstrategien, aber vor allem kleine oder sehr spezialisierte Hochschulen haben oft nicht die Ressourcen, um diese Überlegungen vollständig selbst anstellen zu können. Sie können wir gezielt mit Blick auf ihr jeweiliges Profil beraten und mit dem Kompetenzzentrum einen sehr wertvollen Beitrag leisten.

Kommen wir zum dritten Handlungsfeld, das Sie erwähnten, der Funktion des DAAD als Thinktank: Welche Aspekte sind Ihnen hier wichtig? 
Es gibt eine ganze Reihe von Themen, mit denen wir uns – oft bedauerlicherweise – intensiver auseinanderzusetzen haben: Was bedeutet der Brexit nach dem Vollzug konkret für die Zusammenarbeit in der Wissenschaft zwischen Kontinentaleuropa und unseren britischen Partnern? Wie gehen wir mit – aus unterschiedlichen Gründen – zunehmend schwierigen Partnerländern in der Europäischen Union um? Wie reagieren wir als DAAD, wenn in manchen Ländern Druck auf Partnerinstitutionen ausgeübt wird, weil die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt werden soll? Wie gehen wir mit der klimapolitischen Debatte unserer Tage um, mit den negativen Aspekten physischer Mobilität, denen wir uns stellen müssen? Wie können wir in diesem Zusammenhang auch digitale oder virtuelle Formate besser nutzen? Fragen dieser Art werden uns in Zukunft noch stärker beschäftigen. Unsere Aufgabe als Think Tank ist es, Entwicklungen zu antizipieren und unser Wissen den Hochschulen und der Politik zur Verfügung zu stellen. 

Das Thema Internationalisierung und Digitalisierung steht weit oben auf Ihrer Agenda für die nächsten Jahre? 
Wir müssen sicher auch abwarten, welche Entwicklungen eine Antwort erfordern. Als Frau Professor Wintermantel 2012 das Amt der Präsidentin des DAAD antrat und ich das des Vizepräsidenten haben wir bei der Auftaktpressekonferenz nicht daran gedacht, dass es wenige Jahre später einen Brexit geben könnte, und dass wir in der internationalen Zusammenarbeit sogar in den USA zunehmend herausfordernde Verhältnisse haben würden. Ich bin daher vorsichtig, etwas am Reißbrett zu planen. Aber es gibt natürlich Themen, die wir auf jeden Fall in den nächsten vier Jahren intensiver und strategischer bearbeiten müssen. Dazu gehört die Digitalisierung. Beim DAAD muss es uns vor allem darum gehen zu analysieren, wie digitale Formate oder virtuelle Umgebungen in der internationalen Zusammenarbeit genutzt werden könnten. Wir müssen Zukunftsszenarien entwickeln. Ist es abwegig anzunehmen, dass wir einmal so perfekte virtuelle Umgebungen haben werden, dass ein Auslandssemester im virtuellen Raum stattfinden kann? Heute klingt das abenteuerlich. Aber es ist unsere Aufgabe als Thinktank, zehn bis 20 Jahre in die Zukunft zu denken. Die digitalen Möglichkeiten erlauben es uns, auch heute schon viel besser als früher internationale Studierende auf ihre interkulturelle Erfahrung in Deutschland vorzubereiten. 

Welche weiteren operativen Themen werden Sie voraussichtlich noch beschäftigen? 
Ich sehe ein eher politisches Thema weit oben auf unserer Agenda: Die Frage, wie wir mit den Grundwerten unseres Tuns umgehen – in einer Welt, in der international alles immer stärker zusammenwächst. In der Klimadebatte merken wir, dass wir auf diesem Planeten in einer Schicksalsgemeinschaft sind. Trotzdem gibt es Tendenzen zur Abschottung – dabei sind wir geradezu existenziell miteinander vernetzt. Deswegen können Lösungsvorschläge nur gemeinsam international erarbeitet werden. Das ist unser Basisgeschäft als DAAD. Wenn aber Abschottung und nationalistische Tendenzen zunehmen, wenn damit zudem Wissenschaftsfeindlichkeit und Internationalisierungsfeindlichkeit einhergehen, haben wir ein Problem. Damit müssen wir uns als DAAD auseinandersetzen: Wie können wir unsere Werte verteidigen, die Werte des freien Westens, ohne dogmatisch die Zusammenarbeit mit vielen Partnern zu verweigern? Das ist eine große Herausforderung. 

Abschottungstendenzen gibt es auch in Deutschland. Sehen Sie hier eine besondere Verantwortung für die Hochschulen, dem entgegenzuwirken? 
Ja, das müssen wir uns als Hochschulen und auch der Gesellschaft immer wieder klarmachen: Aktuell gehen knapp 60 Prozent eines Schulabgangsjahrgangs an die Hochschulen. Wir sind kein Elitegeschäft mehr, wir stehen mitten in der Gesellschaft. Hochschulen sind wesentliche Akteure der Gesellschaft, und in unseren Städten und Regionen sind wir wichtige Stabilitätsanker; und auch bei uns greifen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus um sich. Gerade in diesen Zeiten kommt den Hochschulen eine besondere Bedeutung zu.

Unlängst haben Sie in einem Interview gesagt: „Im Schlafwagen werden wir die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen.“ Sitzen die deutschen Hochschulen bisher im falschen Abteil? 
Nein. Ich glaube nur, dass wir Hochschulen uns in diesen unruhigen, herausfordernden Zeiten klar darüber werden müssen, wie die Prioritäten im wahren Leben sind. Wenn es darauf ankommt, geht es nicht darum, ob wir in einem Ranking auf Platz zwei oder auf Platz 18 stehen, sondern um die freiheitliche Gesellschaft und darum, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Unser freiheitliches System zu bewahren, steht über allem. Wir sehen uns heute existenziellen Fragen gegenüber. Daher müssen wir als Hochschulen unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung noch stärker nachkommen.

Wie definieren Sie die Rolle des DAAD in Europa? 
Europa ist neben der Digitalisierung, dem wertebasierten Handeln und Aushandeln internationaler Zusammenarbeit unser dritter großer Schwerpunkt für die kommenden Jahre. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Hochschulen hier eine besondere Rolle spielen können – und sollten. Der gemeinsame europäische Hochschulraum ist ein wesentlicher Stabilisator des gemeinsamen Europas. Wir sind identitätsstiftend. Die grenzenlose europaweite Mobilität, die interkulturelle Erfahrung ermöglicht, führt dazu, dass junge Deutsche, Belgier oder Franzosen sich auch als Europäer fühlen – nicht, weil dies opportun ist, sondern weil es Teil ihrer Identität geworden ist. Das gilt auch für die Forschung: Wir werden in der globalen Auseinandersetzung als Forschungsstandort nur dann wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir die Kräfte, die wir in Europa in einer Reihe von Ländern verteilt haben, zusammenführen. Deshalb ist der Brexit auch ein Schlag gegen die Bündelung der intellektuellen Kapazitäten Europas. 

Wie definieren Sie die Aufgabe des DAAD im Zusammenspiel mit anderen Förderorganisationen? 
Der DAAD ist in über 100 Ländern vertreten, wir sind ein eigenständiger Verein – mit Außenstellen und Informationszentren, mit mehr als 400 Lektorinnen und Lektoren, die an Hochschulen weltweit unterrichten. Wir unterhalten für die deutsche Wissenschaft quasi „Botschaften“ und „Konsulate“ im Ausland. Das Schöne am deutschen Wissenschaftssystem ist, dass wir – wenn wir es klug anstellen – alle von den jeweils komplementären Kompetenzen der anderen profitieren können. Unser Angebot an die anderen Akteure ist: Wir bringen gern unsere außenwissenschaftspolitische Kompetenz ein. Wir sind sozusagen in einer „Flotte“ mit den Hochschulen und den anderen Organisationen unterwegs – und wir wollen dabei ein wichtiger Taktgeber der Internationalisierung sein.

Sie bleiben weiterhin Präsident der Universität Gießen? 
Mein Referenzpunkt für diese Doppelfunktion ist Professor Theodor Berchem, der von 1988 bis 2007 Präsident des DAAD war und davon 16 Jahre lang parallel als Präsident an der Spitze der Universität Würzburg stand. Keiner wird sagen können, dies sei für den DAAD oder die Universität eine erfolglose Zeit gewesen, im Gegenteil. Ich habe in den vergangenen Jahren auch schon intensiv für den DAAD gearbeitet und verfüge in Bonn wie in Gießen über kompetente Teams. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Doppelfunktion gut funktionieren wird. Auch wenn alles noch enger getaktet sein wird und man sich noch etwas straffer abstimmen muss als bisher: Ich freue mich auf die neue Aufgabe.

Interview: Janet Schayan