Kenia 2017: Von Risiken und Nebenwirkungen der Modernisierung

DAAD/Blumbach

Blick auf Nairobi, Sitz der kenianischen Regierung, die in diesem Jahr neu gewählt wird

Am 26. Oktober steht Kenia wieder im Fokus der Weltöffentlichkeit: Dann wird es in dem ostafrikanischen Land Neuwahlen geben, nachdem dessen Oberster Gerichtshof den Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom August für ungültig erklärt hatte. Jetzt hat Oppositionskandidat Odinga erklärt, dass er seine Kandidatur zurückzieht. Eine Einschätzung der aktuellen Situation von Dr. Helmut Blumbach, dem Leiter der DAAD-Außenstelle Nairobi.

Wenn Kenia wählt, erregt das weltweit Aufmerksamkeit. In Erinnerung geblieben sind die Unruhen von 2007, als ein strittiges Wahlergebnis zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen mit über 1.000 Todesopfern führte. Aber diese traumatische Erfahrung ist nicht der einzige Grund, warum die Welt auch anlässlich der Wahlen vom 8. August wieder nach Kenia blickte: Das Land ist ein Laboratorium der Modernisierung, mit all ihren Errungenschaften, Zumutungen und Widersprüchen. Wolkenkratzer neben Slums, Wirtschaftsboom neben Arbeitslosigkeit, junge Bevölkerung und ein veraltetes, aus allen Nähten platzendes Bildungssystem: eine Versuchsanordnung mit Relevanz für den ganzen, im Umbruch befindlichen Kontinent. So waren diese Wahlen einerseits modern und die internationalen Beobachter entsprechend beeindruckt: Der gut organisierte Urnengang in 40.000 Wahllokalen, der Datenabgleich in einem elektronischen Wählerverzeichnis, die zeitnah online gestellten „vorläufigen“ Ergebnisse aus den Wahlbezirken (die dann bald in die Kritik gerieten). Andererseits ist die Disposition einer großen Mehrheit der Wähler und Gewählten, wie seit Jahrzehnten, vormodern tribalistisch: Es ging nicht um politische Programme, sondern um die Verteilung von Macht, Ressourcen und Chancen zwischen den Ethnien. Die Präsidentschaftskandidaten, Amtsinhaber Uhuru Kenyatta als Kikuyu und Oppositionsführer Raila Odinga als Luo, stehen für die Rivalität der beiden größten Volksgruppen des Landes.

Das offizielle Wahlergebnis (54 % der Stimmen für Kenyatta, 45 % für Odinga) wurde von den Verlierern nicht anerkannt: Die Computer der Wahlkommission seien manipuliert worden. Zur allgemeinen Erleichterung wurde der Konflikt nicht auf der Straße ausgetragen, sondern der verfassungsgemäße Weg gewählt und die Beschwerden vor den Obersten Gerichtshof gebracht. Was dann am 1. September von einer Mehrheit von vier der sechs Obersten Richter verkündet wurde, war eine politische Sensation. Die liberale Wochenzeitung „The East African“ betitelte es begeistert mit der Schlagzeile „Democracy at Work“: Die Wahldurchführung sei nicht verfassungskonform gewesen, weil die verantwortliche Wahlkommission bei der Übertragung und Zusammenführung der Ergebnisse „Unregelmäßigkeiten“ und „Gesetzwidrigkeiten“ begangen habe. Die Präsidentschaftswahlen wurden damit für ungültig erklärt und müssen innerhalb von 60 Tagen wiederholt werden. Als neuen Wahltermin nannte die Wahlkommission zunächst den 17., dann den 26. Oktober. Das Datum blieb jedoch genauso umstritten wie die Kommission selbst, die sich mit diesem Gerichtsurteil eigentlich nicht für die Durchführung eines weiteren Urnengangs qualifiziert. Während daher die Opposition (vergeblich!) personelle und organisatorische Konsequenzen forderte, machte sich das Regierungslager mit seiner Parlamentsmehrheit daran, die Wahlgesetze im Schnellverfahren zu seinen Gunsten zu verändern. Am 10.10. dann ein erneuter Eklat: Oppositionskandidat Odinga erklärt, dass er unter diesen Umständen als Präsidentschaftskandidat nicht mehr zur Verfügung steht. Die politische Ungewissheit geht also weiter und der Showdown zwischen den beiden Hauptkontrahenten geht vermutlich in eine weitere Runde.

Anhaltendes Wirtschaftswachstum, überforderte Universitäten

Für Kenias boomende Wirtschaft ist ein Politikstil, der eine Metropole wie Nairobi, aus Angst vor „Post Election Violence“, tagelang lahmlegte und in wenigen Wochen wieder lahmlegen wird, lediglich ein Produktivitätshindernis. Investoren stören demokratische Defizite wenig, solange das Wirtschaftswachstum nicht gebremst wird. Dieses ist in Kenia seit mehreren Jahren beständig hoch. Auch für 2016 errechnet der African Economic Outlook für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts 6 Prozent. Ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 1.300 US-Dollar bescherte dem Land gar den Aufstieg in die Gruppe der „lower middle income countries“. Dieser Wert sagt allerdings nichts über die Einkommensverteilung aus. Noch immer lebt fast die Hälfte der Kenianer unterhalb der Armutsgrenze. An ihnen geht das Wachstum bisher vorbei.

Nairobi_Straßenbild

DAAD

In Nairobi ist der DAAD mit einer Außenstelle vertreten

Teilhabe am Fortschritt, so die allgemeine Überzeugung, gibt es nur mit guter Bildung. Nur ein Studium führt zu besser bezahlten Jobs und gesellschaftlichem Aufstieg. Kenianische Familien tun alles, um ihren Kindern den Weg dorthin zu ebnen. Verbesserte Zugangschancen und der demografische Faktor führen zum stetigen Anstieg der Zahl der Schulabsolventen, was einen erheblichen Nachfragedruck an den Universitäten schafft. Die Konsequenz: rapides Wachstum als das hervorstechende Merkmal des Hochschulsystems. Allein in Kenia verdreifachte sich in 20 Jahren die Zahl der staatlichen Universitäten. Im vergangenen Oktober dann ein überraschender politischer Schwenk: Präsident Kenyatta verhängt einen Stopp für den weiteren Ausbau und fordert stattdessen die Konsolidierung der bestehenden Hochschulen − das Eingeständnis, dass Ostafrikas produktivste Volkswirtschaft sich mit ihren 30 staatlichen Universitäten finanziell übernommen hat. Eine jahrelange Politik, die auf immer neue Hochschulen setzte, ohne diese finanziell und personell angemessen auszustatten, hat ein gravierendes Qualitätsproblem geschaffen.

Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik

Angesichts der überfälligen Reformen nicht nur der Hochschulen, sondern des gesamten Bildungssystems ist es spannend zu verfolgen, wie in Kenia erstmals eine „moderne“ Bildungspolitik betrieben wird: Nicht jeder qualifizierte Sekundarschulabschluss, so die Erkenntnis, muss an die Universität führen, wenn eine bisher nicht vorhandene, hochwertige berufliche Bildung ebenfalls Karrierechancen eröffnet. Die Aufwertung technischer Kollegs hat begonnen. Auch die Universitäten müssen stärker nachfrageorientiert ausbilden. Nicht jeder kann und sollte Anwalt, Arzt, Journalist oder „CEO“ werden. Ingenieure, Sozialarbeiter, Start-up-Unternehmer und eine entsprechende praxisnahe Hochschulausbildung sind vorrangig, wenn eine Industrie- oder Wissensgesellschaft auf breiterer Basis entstehen soll.

Kenias Bildungspolitiker blicken vielfach nach Deutschland: Die weithin anerkannte Qualität der deutschen technischen Ausbildungen, im berufsbildenden wie im (Fach-)Hochschulbereich, wird als Referenzmodell für die Reform des eigenen Bildungssystems gesehen. Hier bieten sich auch aus deutscher Sicht interessante Perspektiven der Zusammenarbeit – bis hin zu dem vom deutschen Auswärtigen Amt, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der kenianischen Regierung verfolgten Plan, mit dem Know-how deutscher Fachhochschulen eine deutsch-ostafrikanische „University of Applied Sciences“ in Kenia aufzubauen. Gewiss ist aber auch: Das Umsteuern erfordert zusätzliche Ressourcen – und dies betrifft berufliche Bildung ebenso wie die Hochschulen. Eine arbeitsmarktgängige, praxisnahe Ausbildung hat ihren Preis: Sie benötigt qualifizierte und motivierte Lehrende, moderne technische Ausstattung und funktionstüchtige, gut gemanagte Institutionen. Dies liegt in staatlicher Verantwortung. Die neue Regierung, wer immer sie am Ende stellen wird, hat viel zu tun. Die Unterstützung durch langjährige Partner wie den DAAD ist dabei weiterhin hochwillkommen.

Helmut Blumbach (13. Oktober 2017)

Der Beitrag ist zuerst erschienen in www.politikundkultur.net (Ausgabe: Nr. 05/2017).