30 Jahre Erasmus: „Man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt“

FAZIT Communication GmbH/Tim Wegner

Die Erasmus-Kenner Siegbert Wuttig (links) und Alan Smith (rechts)

Mittlerweile sind bereits die Kinder der ersten Erasmus-Generation unterwegs: Mit heute mehr als vier Millionen geförderten Studierenden aus Europa, unter ihnen etwa 650.000 Deutsche, schreibt das berühmte Bildungsprogramm der Europäischen Union (EU) seit 30 Jahren Erfolgsgeschichte.

Das Projekt, das der DAAD als Nationale Agentur für den deutschen Hochschulbereich koordiniert, startete 1987 mit zwölf Mitgliedsländern. Heute sind es 33. Auch die Zahl der Geförderten steigt stetig: Im ersten Jahr gingen 650 deutsche Studierende und Hochschulmitarbeiter mit Erasmus ins Ausland, aktuell sind rund 40.000 Deutsche im Jahr dank des Programms unterwegs.

2014 wurde Erasmus mit anderen Bildungsprogrammen der EU unter dem Dach von Erasmus+ zusammengeführt. Neben der Hochschulbildung umfasst das Programm seitdem auch die Schul-, Berufs- und Erwachsenenbildung sowie die Bereiche Jugend und Sport. Ein Gespräch mit Dr. Siegbert Wuttig und Dr. h. c. Alan Smith, die entscheidend an der nachhaltigen Entwicklung von Erasmus mitwirkten: Siegbert Wuttig leitete von 1989 bis 2014 die Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im DAAD, Alan Smith war 1978 bis 1987 für die Durchführung des Vorgängerprogramms von Erasmus verantwortlich und von 1987 bis 1992 Direktor des Erasmus-Büros in Brüssel.

Die Europäische Union, damals noch Europäische Gemeinschaft (EG), behandelte das Thema Bildung anfangs eher stiefkindlich. Wie kam es 1987 zur Gründung des Erasmus-Programms?

Alan Smith: Europa hatte damals eine Periode wirtschaftlicher Stagnation durchgemacht, die zum Teil mit einem mangelnden Einsatz für die Weiterentwicklung der EG einherging. Das machte sich gerade in Bereichen wie der Bildung bemerkbar, in denen es keine originäre Zuständigkeit der Gemeinschaft gab. Was die Gemeinschaft aus dem Tief holte, war der Aufruf der Europäischen Kommission unter ihrem Präsidenten Jacques Delors, einen verbindlichen Zeitplan für den Abschluss des gemeinsamen Binnenmarktes zu vereinbaren. Für den Bildungsbereich war das enorm wichtig, denn es war klar: Um das Potenzial des Marktes auszuschöpfen, mussten qualifizierte Arbeitskräfte herangebildet werden, die europäisch denken. Gleichzeitig setzte sich aber die Erkenntnis durch, dass die wirtschaftliche Komponente allein nicht ausreichen würde, um die Idee einer wahren europäischen Gemeinschaft nachhaltig zu verwirklichen: Schließlich verliebt man sich nicht in einen Binnenmarkt...

Siegbert Wuttig: Wichtig wurde deshalb und angesichts von wachsendem Euroskeptizismus die Vorstellung von einem „Europa der Bürger“. Dieses politische Konzept fand auch Eingang in den Beschluss des Erasmus-Programms. Erasmus sollte es danach den Menschen erleichtern, sich mit Europa zu identifizieren und in der EU mehr als eine Wirtschaftsunion zu sehen.

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Alan Smith (links) und Siegbert Wuttig (rechts) diskutieren gerne über Europa und die Chancen, die das Erasmus-Programm vielen ermöglichte

Smith: Gerade ein ambitioniertes Programm für Studierendenmobilität und Hochschulkooperation erfüllte diese doppelte Orientierung perfekt: wirtschaftliche Relevanz und Bürgernähe zugleich! Fest steht jedenfalls: Für die europäische Idee war und ist Erasmus eine tragende Säule.

Dennoch waren anfangs nicht alle Mitgliedstaaten von dem Programmentwurf überzeugt.

Smith: Es war in der Tat keine einfache Geburt. Dem Beschluss gingen anderthalb Jahre zäher Verhandlungen voraus – ein echter Tiefpunkt des Programms, der sich glücklicherweise so nie wiederholte. Die Gründe dafür waren divers: Die Briten fürchteten beispielsweise um ihr Geld und schlugen deshalb vor, die Studentenstipendien zu streichen; die Deutschen – bei grundsätzlicher Zustimmung – um die Bildungshoheit der Länder.  

Wuttig: Deutschland machte sich bei den Verhandlungen von Anfang an stark für eine dezentrale Verwaltung des Programms durch die Mitgliedstaaten – mit Erfolg zunächst bei den Studierendenstipendien, die dann in den einzelnen Ländern durch Nationale Agenturen wie den DAAD vergeben wurden. Das Prinzip der dezentralen Programmverwaltung ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der EU-Bildungsprogramme geblieben.

Wie verlief die Anfangszeit nach den komplexen Vorverhandlungen?

Smith: Fulminant! Das lag im Wesentlichen daran, dass im Vorläuferprogramm die Grundlagen für Erasmus – in enger Abstimmung mit den Hochschulen selbst – gelegt worden waren. Bis 1987 wurden an die 500 „Gemeinsame Studienprogramme“ zum Austausch von Dozenten und in geringem Maße auch Studenten bezuschusst.

Wuttig: Schon im ersten Jahr gingen mehr als 3.000 europäische Studierende und Hochschulmitarbeiter mit Erasmus ins Ausland. Die Hochschulen hatten sich in der kritischen Phase des Programmbeschlusses lautstark für Erasmus eingesetzt und warteten darauf, endlich das Programm in Anspruch nehmen zu können. Deutschland tat sich mit der Einführung von Erasmus besonders leicht, da die deutschen Hochschulen bereits viele Erfahrungen mit bilateralen Programmen in Europa hatten und der DAAD als Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit über jede Menge Erfahrung im Studierendenaustausch verfügte. Anderen Ländern, die erst eigene nationale Agenturen etablieren mussten, stand der DAAD als Modell und Berater zur Verfügung.

Heute ist Erasmus in Europa zu einer geschätzten Marke geworden. Herr Smith, stimmt es, dass Sie sich den Namen unter der Dusche haben einfallen lassen?

Smith: Ja, das ist richtig. Damals war es Mode, neue Programme der EU-Kommission nach Personen zu benennen, deren Name auch als Abkürzung für die Programmbezeichnung dienen kann. Als die Teammitglieder um Namensvorschläge gebeten wurden, habe ich also mit den Buchstaben gespielt. E für Europa, U für Universitäten, S für Studenten und M für Mobilität… Und plötzlich hatte ich die zündende Idee: ERASMUS – „European Community Action Scheme for the Mobility of University Students“. Der Name des europäischen Universalgelehrten ist dabei selbst Programm, Erasmus von Rotterdam war in seinem Leben und seiner akademischen Tätigkeit vorbildlich grenzüberschreitend!    

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Zusammenarbeit und Herausforderungen: Siegbert Wuttig (links) und Alan Smith brachten das Erasmus-Programm maßgeblich voran

Herr Wuttig, Sie waren ab 1989 beim DAAD für Erasmus zuständig. Inwiefern hat es sich für Sie gelohnt, sich über 25 Jahre lang für das Programm einzusetzen?

Wuttig: Ich habe durch meine Arbeit weite Teile von Deutschland und Europa kennengelernt, und vor allem die Zusammenarbeit mit den Kollegen auf europäischer und nationaler Ebene hat mich persönlich bereichert. Gemeinsam haben wir das Programm im konstruktiven Dialog und meist mit Erfolg für die Programmnutzer vorangetrieben. Natürlich gab es aber auch immer wieder Herausforderungen wie den Kampf gegen die Bürokratie, der 1997 mit einem europaweiten Aufschrei gegen überbordende Vorgaben aus Brüssel einen Höhepunkt erlebte.

Smith: Zu dieser Zeit war ich schon nicht mehr für Erasmus zuständig. (lacht)

Die EU fördert das Programm mit rund 15 Milliarden Euro für sieben Jahre. Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hat die Studierendenmobilität ihrerseits auf Europa?

Wuttig: Ich habe vor einigen Jahren für den DAAD eine Studie in Auftrag gegeben, die ganz klar die positiven ökonomischen Auswirkungen der Mobilität aufzeigt. Austauschstudierende bringen Geld ins Land und stellen einen Wirtschaftsfaktor dar, insbesondere dann, wenn sie über ihr Studium hinaus bleiben und als Arbeitnehmer Steuern zahlen. Auf institutioneller und persönlicher Ebene erzielt die Austauschmobilität weitere wichtige Effekte. Hochschulen werden internationaler, und für jeden Einzelnen ist es ein großer Gewinn für den weiteren beruflichen Weg, aber auch für die persönliche Entwicklung und den Aufbau von langfristigen Bindungen. Nicht umsonst wird mit einem Schmunzeln gesagt: Der eigentliche Beitrag zu Europa sind die eine Million Erasmus-Babys.

Mittlerweile sind bereits einige diese Kinder selbst mit Erasmus unterwegs. Wie gelang es, mit diesem Programm immer wieder neue Generationen von Studierenden anzusprechen?

Smith: Erasmus erfüllt ein echtes Bedürfnis. Wenn das nicht vorhanden wäre, würde es das Programm längst nicht mehr geben. Zudem fußt die Idee auf einem relativ einfachen Programmdesign: Integriert in das Studium bietet Erasmus die Möglichkeit, für eine vernünftig lange Zeit – in der Regel mehrere Monate – in ein anderes Land zu gehen. Das gilt nicht nur für Studierende, sondern auch für Dozenten, für die eine Zusammenarbeit mit KollegInnen über die Grenzen hinweg eine wichtige akademische und häufig auch persönliche Bereicherung darstellt. Jede einzelne Generation macht ihre eigenen Erfahrungen und erlebt die Vorteile des Programms, das im Laufe der Zeit kontinuierlich weiterentwickelt wurde.

Wuttig: Mit Erasmus+ ist es zum Beispiel mittlerweile auch möglich, einen Teil des Studiums im außereuropäischen Ausland zu absolvieren. Auch das Spektrum der Austausch- und Kooperationsmöglichkeiten wurde noch einmal erweitert; Einrichtungen aus verschiedenen Bildungsbereichen – Hochschulen, Schulen und Wirtschaftsbetriebe – werden untereinander vernetzt. Aufgrund seines nachhaltigen Erfolgs ist Erasmus dabei im Laufe der Jahrzehnte zu einem Synonym für Auslandsaufenthalt geworden. Das sieht man besonders eindrücklich an den Film „L'auberge espagnole“, der erste Spielfilm, der über ein Austauschprogramm gedreht wurde. „Erasmus“ funktioniert dort wie ein Codewort, man gehört damit gleich zur Community. Zudem darf man nicht vergessen: Die Generation Erasmus ist mittlerweile mit zahlreichen Alumni auch in den etablierten Parteien und in prominenten politischen Positionen angekommen, wie etwa das Beispiel von Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, zeigt.

Dennoch sind zurzeit viele europaskeptische Stimmen zu hören, zudem steht der Brexit an. Wie schafft man in dieser Situation ein positives Gegengewicht?

Wuttig: Durch mehr Investitionen in den Austausch und Maßnahmen zur Förderung der europäischen Identität. Von verschiedenen Seiten wurde bereits eine Aufstockung der Mittel für Erasmus+ gefordert, die ja im Moment noch weniger als zwei Prozent des EU-Haushaltes betragen.

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Die Welt wächst zusammen: Mit Erasmus lernen Studierende das Leben im Ausland kennen

Smith: Auch ich hoffe auf eine breitere finanzielle Basis des Programms. Allerdings stellt sich dann die Frage: In welche Bereiche fließt das zusätzliche Geld, um für Europa den größten Nutzen zu erzielen?

Wie lautet Ihr Vorschlag?

Smith: Große Teile der Hochschulen sind bereits europafreundlich. Wenn wir den größtmöglichen Effekt im Hinblick auf eine stärkere Identifizierung der Menschen mit der europäischen Sache erzielen wollen, sollten wir zusätzliche Mittel – so es sie gibt! – vornehmlich auf andere Zielgruppen konzentrieren. Das gilt insbesondere für die Erwachsenenbildung, die keine so lange Vorgeschichte der europäischen Zusammenarbeit hat wie der Hochschulbereich, aber für die Einstellung der Bürger gegenüber Europa – übrigens auch in den Nachbarstaaten der Union – von enormer Bedeutung ist. Anders gesagt: Die Vorteile für die Hochschulen – auch die Mobilität und die Kooperation mit Ländern außerhalb der EU – sollten auch für die Volkshochschulen gelten. Ebenso wünsche ich mir mehr Geld für Initiativen allgemeinbildender und beruflicher Schulen.

Wuttig: Natürlich sollen auch andere Bildungsbereiche noch mehr von Erasmus+ profitieren. Das darf aber nicht heißen, dass dies zu Lasten der Hochschulen geht, denn die Hochschulen spielen eine große Rolle bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Herausforderungen. Um möglichst viele Menschen mit Erasmus+ anzusprechen, empfehle ich, das zusätzliche Geld in niederschwellige Angebote zu investieren, die verschiedene Bildungsbereiche verbinden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Programm „Europa macht Schule“: Hier stellen ausländische Erasmus-Studierende einer deutschen Schulklasse ihr Heimatland vor und die Schüler kommen dabei schon früh mit einer anderen europäischen Kultur in Kontakt.

Interview: Christina Pfänder (18. September 2017)