Germanistenkongress in Reims: Vielfalt eines Fachgebiets

DAAD

Empfang in Reims (v. l.): Benjamin Develey, stellvertretender Bürgermeister der Stadt, Ewa Żebrowska, Thomas Nicklas, Marielle Silhouette, Christiane Schmeken und Helga Meise

Die in Kooperation mit dem DAAD veranstaltete 49. Jahrestagung der französischen Germanistenvereinigung AGES widmete sich äußerst vielschichtig „Hybridisierungen“, brachte ehemalige DAAD-Lektoren und internationale Alumni mit zahlreichen weiteren Experten zusammen – und verband aktuelle Themen mit historischen Perspektiven.

Reims – eine Stadt, die wie nur wenige zum Symbol für die wechselvolle deutsch-französische Geschichte geworden ist: im Ersten Weltkrieg von der deutschen Artillerie stark zerstört, am Ende des Zweiten Weltkriegs Schauplatz der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai 1945 – und 17 Jahre später Ort des Brückenschlags zwischen Frankreich und Deutschland. Am 8. Juli 1962 wohnten Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer einer Friedensmesse in der Kathedrale von Reims bei. Es war der Auftakt der deutsch-französischen Aussöhnung.

Ende Mai 2016 war das geschichtsträchtige Reims Veranstaltungsort der 49. Jahrestagung der französischen Germanistenvereinigung AGES (Association des Germanistes de l'Enseignement supérieur). Geschichte und Gegenwart fanden unter dem Titel „Hybridisierungen“ („Hybridations“) zusammen. Nicht zuletzt mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte wurde diskutiert, wie sich das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen, Identitäten, Herkünfte oder Mentalitäten in Film oder Literatur auswirkt. Zum einen entstehen neue Formen, gewissermaßen „Textkreuzungen“, zum anderen neue, „hybride“ Wahrnehmungsformen oder Lesarten. Sie lassen bislang als linear geltende Erzählungen in neuem Licht erscheinen. So betrachtete Professor Pascal Fagot von der Universität Straßburg Schilderungen von Zeitzeugen der Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 als eine hybride Erzählung, und Dr. Ricarda Schneider von der Universität Sorbonne Nouvelle – Paris 3 wertete die Filmkritik als eine hybride Textsorte. Ähnlich verfuhr Dr. Camille Jenn-Gastal von der Universität Reims, die sich dem „Singespiel“ von Charlotte Salomon widmete. Die jüdische, aus Berlin stammende Schriftstellerin und Malerin wurde 1943 im Alter von 26 Jahren im KZ Auschwitz-Birkenau umgebracht. Ihr Singespiel erzählt in Bildern, Texten und Musikzitaten auf 1.300 Gouachen und Transparenten eine Familiensaga.

Von der „Maschinenfrau“ zum „i,Slam“

Eine ganz konkrete Erscheinungsform des Hybriden untersuchte Dr. Leslie Brückner. Sie war von 2013 bis 2015 DAAD-Lektorin an der Université de Lorraine in Metz und ist derzeit assoziiertes Mitglied am CEGIL Metz (Centre d’Etudes Germaniques Interculturelles de Lorraine). Brückner lenkte den Blick auf den Typus der „Maschinenfrau“, ein Wesen, das sich mit dem Paradox des „Lebendigtoten“ beschreiben lässt. Exemplarische Ausprägungen erfährt dieser Typus bei E.T.A. Hoffmann – in der Erzählung „Der Sandmann“ – und in Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“. Als brandaktuell erwies sich die Präsentation von „i,slam“, ein Poetry-Slam aus Berlin, der vor allem Muslime anspricht und ihnen eine Plattform geben will. Das Leitbild, realitätsnah, aber auch „gottgefällig“ zu dichten, führte in der Diskussion zu kritischen Nachfragen.

Dieses Beispiel belegte, dass Deutschland als Einwanderungsland zunehmend in den Blick der französischen Germanistik gerät, ein Prozess, den auch Christiane Schmeken, Leiterin der Pariser DAAD-Außenstelle, beobachtet: „Schon die räumliche Nähe zu Deutschland und die hohe Zahl aus Deutschland stammender Germanisten in Frankreich sorgen dafür, dass die Aktualität der Einwanderungsgesellschaft Deutschland im Fokus der französischen Germanistik steht. Intensive Kontakte zu deutschen Kollegen tragen dazu bei, dass das Forschen über deutsche Sprache und Literatur zunehmend um einen deutsch-französischen Diskurs über gemeinsame Themen, mit europäischen und internationalen Bezügen, bereichert wird.“

Professor Marielle Silhouette, Präsidentin der AGES, sowie Professor Helga Meise und Professor Thomas Nicklas vom Institut für Germanistik der Universität Reims, hatten für die Jahrestagung zahlreiche Projektpartner ins Boot geholt, darunter den DAAD, die Deutsch-Französische Hochschule, die Stadt Reims, das Goethe-Institut Nancy und die Deutsch-Französische Kulturstiftung Mainz. „Die AGES ist einer der engsten Partner des DAAD in Frankreich“, erläutert Christiane Schmeken, „unter den mehr als 320 Mitgliedern gibt es zahlreiche aktuelle und ehemalige Lektorinnen und Lektoren. Außenstelle und AGES führen jährlich eine gemeinsame Veranstaltung durch, bei der hochschulpolitische und strategische Fragestellungen zur Zukunft des Faches im Vordergrund stehen.“ 

„Abenteuer der deutschen Grammatik“

Ein wichtiges Anliegen der Jahrestagung war es, den Blick über den Tellerrand der deutsch-französischen Germanistik hinaus zu lenken. So gehörte mit Professor Ewa Żebrowska die Präsidentin des 1991 gegründeten Verbands Polnischer Germanisten (polnisch: Stowarzyszenie Germanistów Polskich, SGP) zu den Referenten. Der SGP zählt derzeit 400 Mitglieder. Żebrowska ist DAAD-Alumna und derzeit Professorin für Linguistik in Warschau. Von ihr war zu erfahren, dass in Polen – wie in Frankreich – die Germanistik mit zurückgehenden Studierendenzahlen zu kämpfen hat. Je rund 100 Studienanfänger an den vier großen Universitäten des Landes (Warschau, Krakau, Breslau, Posen) bilden dennoch ein solides Fundament.

Weniger Deutsch-Studierende – dieser Befund wirft immer die Frage nach Werbung für die deutsche Sprache auf. Auf eindrucksvolle Art betrieb diese die japanische Schriftstellerin Dr. Yōko Tawada, die am ersten Abend der AGES-Tagung aus ihrem Buch „Abenteuer der deutschen Grammatik“ las. Yōko Tawada wirft in ihren Gedichten einen liebevollen und neugierigen Blick auf Wörter, Grammatik, Sprachmelodie und anderes mehr. 1982 kam sie als 22-Jährige nach Hamburg; seit 2006 lebt sie in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, vor wenigen Tagen den Kleist-Preis 2016. 2015 wurde sie auf den „DAAD Distinguished Chair in Contemporary Poetics“ an der New York University berufen. Tawada spielt virtuos mit den Differenzen zwischen zwei Sprachen. Und mit hybriden Wortschöpfungen, etwa wenn aus Übersetzungen mehrdeutige „Überseezungen“ werden.

Mathias Nofze (7. Juni 2016)