Zum Tod von Imre Kertész

Renate von Mangoldt

Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD trauert um seinen früheren Gast Imre Kertész, den großen ungarischen Autor und Literaturnobelpreisträger des Jahres 2002, der mit 15 Jahren auf der Straße verhaftet worden war und Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte.

1993 war er auf Einladung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in die Stadt gekommen, noch bevor seinem Roman eines Schicksallosen im zweiten deutschen Publikationsanlauf 1996 in der Übersetzung von Christina Viragh endlich international jene Würdigung zuteilwurde, die er verdient, hatte der Autor doch mit einer „Sprache für Auschwitz jenseits der amtierenden Literatursprachen“ aufgewartet, deren alles verändernde, revolutionäre Kraft „im demütigen und schockierenden Verzicht auf jede literarische Brillanz“ besteht: „Eine Sprache ohne Gefühl, denn die Gefühle waren verraten worden. Eine Sprache ohne Blumen und Engel, denn diese gehörten in die Gutenachtgeschichten der Verfolger. Eine Sprache ohne Eigenschaften, denn Eigenschaften hatten am Ende nur noch die Mörder.“ Gleichfalls hatte Imre Kertész mit seinem Roman eines Schicksallosen eine neue Deutung von Auschwitz unternommen: als finalen Zusammenbruch der europäischen Kultur und der europäischen Werte, die in dieser Konsequenz noch keiner zuvor formuliert hatte – weil dies einen Abschied vom bürgerlichen Lebenskonzept und dem „Goetheschen Humanismus“ (László Földényi) bedeutete. Oder wie Imre Kertész es selbst formulierte: „Das Wesentliche ist nicht einmal, was mit den Juden geschehen ist, das Wesentliche ist, was mit den europäischen Werten geschehen ist. Die Offenbarung des Holocausts besteht nämlich darin, daß wir von einer Wertekrise zu einer endgültigen Zurücknahme der Werte gekommen sind. (…) Ist das für dich eine Katastrophe? Ja. Dann schreib so darüber, mit allen Konsequenzen. Ich will keine Lösung, ich will das Massengrab, das zwischen mir und der Welt klafft, nicht zuschütten.“[1]

Dass Imre Kertész an Parkinson erkrankt war und nicht mehr lange zu leben haben würde, war jenen klar bewußt, die seine 2013 unter dem Titel Letzte Einkehr veröffentlichten Tagebücher der Jahre 2001-2009 (Deutsch von Kristin Schwamm) gelesen hatten, ein Buch, in dem der Autor einerseits Berlin als Sehnsuchtsort beschreibt und in dem er zugleich hart mit sich ins Gericht geht, über den „unerträglichen Terror des Alters“ schreibt und darüber, wie müde er es ist, ein „Holocaust-Clown“ geworden zu sein, ein Held der deutschen Erinnerungskultur und gefeierter Auschwitz-Überlebender, wie er es in einem Gespräch mit Iris Radisch in der ZEIT vom 12.09.2013 noch einmal bekräftigte.

Wie sein Verlag Magvető Kiadó heute mitteilte, ist Imre Kertész nun im Alter von 86 Jahren gestorben.

Katharina Narbutovič

Leiterin des Berliner Künstlerprogramm des DAAD

 

[1] So formulierte Imre Kertész es selbst noch einmal in „Letzte Einkehr. Tagebücher  2001-2009“, Reinbek bei Hamburg 2013