Grenzen verbinden Germanisten

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"Wie ein großes Familientreffen": Dirk Kemper, Leiter der Germanistikkonferenz

„Grenzen und ihre Überwindung“ waren nicht nur inhaltlich Thema bei der 33. DAAD-Germanistikkonferenz in Moskau, sondern auch ganz praktisch Programm. Die russische Germanistik will sich modernisieren, dafür müssen Grenzen verschoben und überwunden, neue Perspektiven in Betracht gezogen werden. Dafür steht auch die Einbeziehung des Internationalen Graduiertenkollegs „Kulturtransfer und ‚kulturelle Identität‘“ in die Konferenz.

Rund 80 Germanisten, DAAD-Lektoren, Doktoranden und Graduierte aus Russland, Deutschland, Belarus und anderen Ländern sind zur Germanistikkonferenz in die Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität (RGGU) gekommen. Die Stimmung am ersten Abend ist ausgelassen: „Am Anfang solcher Konferenzen ist immer die richtige Atmosphäre wichtig. Hier in Russland ist die Germanistikkonferenz wie ein großes Familientreffen, die meisten Teilnehmer kennen sich“, sagt Konferenzleiter Professor Dirk Kemper, Direktor des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen und Inhaber des Thomas-Mann-Lehrstuhls an der RGGU.

Neuer Partner – neue Synergien

Am ersten Konferenztag betont der neue Leiter der DAAD-Außenstelle Moskau, Dr. Peter Hiller, die große Besonderheit der diesjährigen Konferenz: Erstmals konnte das   im Herbst 2014 gegründete Internationale Graduiertenkolleg „Kulturtransfer und ‚kulturelle Identität‘ – Deutsch-Russische Kontakte im europäischen Kontext“ in die Konferenz einbezogen werden. Das von der RGGU, der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gemeinsam finanzierte Graduiertenkolleg beschäftigt sich mit der Erforschung der Kulturbeziehungen im deutsch-russischen Kontext vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, erklärt die Sprecherin des Kollegs, Professor Elisabeth Cheauré aus Freiburg. Auch der DAAD zählt zu den Förderern des Graduiertenkollegs, das nun die Germanistikkonferenz bereichert. Konferenzleiter Dirk Kemper unterstreicht den Synergieeffekt: „Diese Verzahnung ist äußerst produktiv. Viele neue Anregungen können unmittelbar aufgegriffen werden.“ Die Kooperation mit dem Graduiertenkolleg bedeutet eine zusätzliche inhaltliche, personelle sowie finanzielle Unterstützung der Germanistikkonferenz. So konnten auch eine größere Referentengruppe aus Deutschland eingeladen und mehr Workshops und Seminare angeboten werden. Frau Professor Weertje Willms stellt in Moskau beispielsweise Themen ihrer Lehrveranstaltungen im Bereich des Kulturtransfers in Freiburg vor: Passend zum Thema Grenzen untersucht sie das Russlandbild in Deutschland anhand unterschiedlicher deutsch-russischer Reiseberichte der letzten drei Jahrhunderte, aber auch anhand eines Vergleichs verschiedener Wahlplakate aus der deutschen Geschichte mit Bezug zu Russland bzw. der Sowjetunion.

DAAD-Germanistikkonferenz in Moskau (Maerz 2016)

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Konzentrierte Konferenzteilnehmer: Offen für neue Wege

„Die Germanistik befindet sich im Umbruch“

Gleichzeitig hegen Organisatoren und Teilnehmer die große Hoffnung, die Wissenschaft der deutschen Sprache weiter für die Zukunft fit machen zu können. Nachdenklich merkt Peter Hiller, der viele Jahre für den DAAD auch in Polen arbeitete, am Eröffnungsabend an: „Die Germanistik befindet sich im Umbruch – in ganz Osteuropa, besonders stark aber in Russland. Die Studierendenzahlen sinken, ebenso die Deutschkenntnisse zu Studienbeginn und damit auch die Qualität des Studiums.“ Nach aktuellen Erhebungen des Auswärtigen Amtes gab es 2010 noch etwa 2,2 Millionen Deutschlerner in Russland; 2015 waren es nur noch 1,5 Millionen, die Deutsch als Fremdsprache lernten. Dennoch wird die deutsche Sprache weiterhin auf hohem Niveau in Russland erlernt, besonders dort, wo sie berufs- oder studienqualifizierend ist.

Mit dem Thema der Sprachpolitik beschäftigte sich bei der Konferenz die Arbeitssektion von Michael Seyfarth, DAAD-Lektor in Tomsk. Die andauernde Reform der Universitäten in Russland, die das Hochschulsystem moderner und effizienter machen soll, schafft überall neue Rahmenbedingungen, in allen Regionen jedoch unterschiedliche. In der lebhaften Diskussion, erzählt Sektionsleiter Seyfarth, seien sehr innovative Wege diskutiert worden, um den veränderten Rahmenbedingungen mit lokalen Lösungen zu begegnen. 

DAAD-Germanistikkonferenz in Moskau (Maerz 2016)

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"Zeitgemäß und aktuell": ​Vera Zabotkina, Prorektorin der RGGU, spricht bei der Eröffnung der Konferenz. Neben ihr (v. l.): Dirk Kemper, Elisabeth Cheauré (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) und Jörn Achterberg (DFG)

Einzige echte Grenze – die Zeit

Allgemein steht der fehlende Berufsbezug immer wieder in der Kritik. Professor Vera Zabotkina, Prorektorin für innovative internationale Projekte in der RGGU, sagt: „Bildung besteht aus den drei ‚I‘ – sie muss international, interdisziplinär und intersektoral sein.“ Die Germanistik müsse besonders an Letzterem arbeiten, Beziehungen zu anderen Bereichen müssten ausgebaut werden. Dabei sei die große Stärke aller Philologien, dass sie die viel geforderten Soft Skills wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und interkulturelle Kommunikation vermittelten. Auch um diese auf dem freien Markt einbringen zu können, müsse die Wissenschaft ihre Grenzen überwinden. „Diese Konferenz ist dafür eine sehr wichtige Veranstaltung. Das Thema ‚Überwindung von Grenzen‘ ist richtig gewählt – zeitgemäß und aktuell“, so Vera Zabotkina als Vertreterin der Gastgeber-Universität.

Alle Teilnehmer können auch die Grenzen ihrer eigenen Wissenschaftskultur kennenlernen und, so Konferenzleiter Dirk Kemper, etwa das Verhältnis zu ihren Doktoranden neu überdenken: „In Deutschland ist der Doktorand ein junger Kollege, in Russland ist das Verhältnis doch hierarchischer geprägt.“ Und während Frau Professor Ljudmila Grischaewa aus Woronesch bei der Abschlussrunde betont: „Wir können sagen, Grenzen verbinden uns, sie trennen nicht“, gibt es letztendlich doch eine Grenze, die nicht überwunden werden kann: die zeitliche Grenze, die eine Fortsetzung des Austausches in dieser Form nun auf das kommende Jahr vertagt. Nach zwei DAAD-Germanistikkonferenzen hintereinander in Moskau soll sie im nächsten Jahr wieder in die Regionen ziehen.

Peggy Lohse (16. März 2016)