Erinnern für Gegenwart und Zukunft

Maurice Weiss/Ostkreuz

Bundesaußenminister Steinmeier im Gespräch mit Swetlana Alexijewitsch und Moderator Lothar Müller

50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind ein Grund zum Feiern, aber auch zur Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen. Im Rahmen der deutsch-israelischen Lese- und Gesprächsreihe diskutierte vor wenigen Tagen Bundesaußenminister Steinmeier mit den Schriftstellerinnen Swetlana Alexijewitsch und Ursula Krechel sowie mit dem Künstler Dani Gal.

Es ist ein nahezu unglaubliches Datum, dass Deutschland in diesen Tagen feiert. 50 Jahre lang bestehen nun die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel – im selben Jahr, in dem das Ende des Zweiten Weltkriegs und damit verbunden das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gerade einmal 70 Jahre zurückliegen. Nur zwanzig Jahre trennen das Ende des Holocaust vom Beginn einer einzigartigen Partnerschaft. Es sei „fast unverständlich, dass das Land der Opfer dem Land der Täter die Hand gereicht hat“, sagte Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier während der Veranstaltung „Zersprengtes zusammenfügen“ im Berliner Maxim Gorki Theater. Der Titel des Abends brachte beides zusammen: die Wucht der Geschichte von Zerstörung und Unmenschlichkeit mit der dennoch anhaltenden Hoffnung auf Verständigung und Austausch.

Raum für Erzählungen

„Im Mittelpunkt der Reihe stehen ums Eck gedachte Narben und Fragen, denen sich beide Länder – je auf ihre Weise – heute zu stellen haben“, sagt Katharina Narbutovič. Die Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD hat die Veranstaltungsreihe auf Bitten des Auswärtigen Amts konzipiert. Sie betont, bezogen auf die Veranstaltung im Maxim Gorki Theater, die wesentliche Bedeutung, die individuellen Erzählungen zukomme: „Wenn eine Gesellschaft keinen Raum bietet für die Geschichten der Einzelnen, kann kein Kitt entstehen, der diese Gesellschaft zusammenhält.“ Drei Erzähler von außergewöhnlichem Rang brachte der Abend im Maxim Gorki Theater mit Minister Steinmeier zusammen: Swetlana Alexijewitsch, Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD im Jahr 2011 und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels im Jahr 2013, Ursula Krechel, die für ihren Roman „Landgericht“ 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, und Dani Gal, der zu den renommiertesten zeitgenössischen israelischen Künstlern zählt und mit seinen Video-Arbeiten eine eigene Form der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart entwickelt hat.

Im Maxim Gorki Theater zeigte Gal einen Ausschnitt aus seinem Werk „Wie aus der Ferne“, das 2014 auf der Berlinale gezeigt wurde. Der durch mehrere Briefe belegte Austausch zwischen dem ehemaligen NS-Rüstungsminister Albert Speer und dem als „Nazi-Jäger“ bekannt gewordenen Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal dient „Wie aus der Ferne“ als Vorlage für ein fiktives Treffen der beiden Männer, bei dem sie ein Modell des Konzentrationslagers Mauthausen betrachten. Der Film führt das Modell durch Geräusche eines fahrenden Zuges ein – und Simon Wiesenthal erinnert plötzlich daran, dass überhaupt keine Gleise in dieses KZ führten. Dani Gal hob auf dem Podium zudem hervor, dass die aus Filmen so bekannte Perspektive der Einfahrt ins KZ nicht die der in dunklen Viehwaggons zusammengepferchten Gefangenen sei. Es ist sein Interesse für konkurrierende geschichtliche Narrative,  sein Auge für Auswahl- und Ausschlussmechanismen, mit denen Dani Gal eine wache Auseinandersetzung mit der Geschichte befördert.

Heutige Verantwortung Deutschlands

Auf weit mehr als auf bloße Rekonstruktion richtet sich auch das literarische Werk von Ursula Krechel. Zwar hat die Autorin für ihren Roman „Landgericht“ zahlreiche historische Quellen genutzt. Aber die Geschichte des jüdischen Richters Richard Kornitzer, der nach der Vertreibung durch die Nationalsozialisten in die junge Bundesrepublik zurückkehrt, bietet zugleich ganz aktuelle Bezüge.

Kornitzer muss im Deutschland der Nachkriegszeit um Anerkennung kämpfen und bleibt in vielem ein Fremder, zunächst wird er als „Displaced Person“ geführt. Ursula Krechel verdeutlichte in der Diskussionsrunde, wie sehr das Leid der Heimatlosigkeit auch für das heutige Deutschland ein Thema sein sollte: „Wir haben viele Gründe, uns mit der Situation von Flüchtlingen zu beschäftigen“, sagte sie und verwies sowohl auf die Fehler der jungen Bundesrepublik im Umgang mit zurückkehrenden Exilanten als auch auf die heutige Verantwortung Deutschlands angesichts der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Frank-Walter Steinmeier hob hervor, dass Deutschland angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts – auch jenseits der Beziehungen zu Israel – allen Grund habe, dazu beizutragen, „dass die Welt nicht in Unfrieden fällt“ und sich weltweit für Frieden und Stabilität einzusetzen. Steinmeier spann dabei einen Bogen von der Flüchtlingspolitik bis zu Deutschlands diplomatischem Einsatz in der Ukraine-Krise.

Reflexion für die Gesellschaft

Die Zerrissenheit der post-sowjetischen Gesellschaften ist eines der großen Themen von Swetlana Alexijewitsch. Während des Gesprächsabends berichtete die in der Ukraine geborene weißrussische Schriftstellerin, wie sehr sie vor Kurzem eine Begegnung mit Studierenden in Kiew überraschte, die frei von Zynismus waren, während in Russland eine Stimmung des Hasses herrsche: „Ich dachte, solche jungen Menschen gibt es nicht mehr.“ In Berlin las sie aus ihrem Buch „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ eine Passage vor, in der sich eine Gruppe von Russen in Chicago trifft – enttäuscht vom Leben in der alten Heimat, desillusioniert von der Ankunft in den USA. 

„Zersprengtes zusammenfügen“ – im Maxim Gorki Theater wurde die Vielschichtigkeit der thematischen Überschrift deutlich. Schon die Auftaktveranstaltung der deutsch-israelischen Lese-und Gesprächsreihe hatte unter dem Titel „Zweierlei Heimaten“ mehrere Bedeutungsebenen. So wurde im Gespräch von Minister Steinmeier mit dem israelischen Schriftsteller Meir Shalev und dem deutschen Regisseur Edgar Reitz etwa die Bedeutung der offenen Gesellschaft als einer geistigen Heimat deutlich. Und diese Vielschichtigkeit ist auch zentral für den Anspruch der gesamten Veranstaltungsreihe, die im September fortgesetzt werden soll.

Johannes Göbel (15. Mai 2015)